Was tun gegen digitale Cowboys, Dauererregung und Krebs wegen Fake News? Deutschlands bekanntester Wissenschaftler Ranga Yogeshwar über den Umgang mit Transparenzterror, Internet-Porno und die Bequemlichkeitsfalle.

 

 

 

Netzentdecker: Mal ehrlich: Muss sich auch ein Top-Physiker von seinen Kindern das Smartphone einrichten lassen?

 

Yogeshwar: Mir war von Anfang an wichtig, diese digitale Welt im Kern zu verstehen. Und das gilt bis heute: Nachts programmiere ich derzeit neuronale Netze. Ich will genau wissen, wie das geht. Insofern gehöre ich zu den Wenigen, die ohne ihre Kinder digital überleben.

 

Netzentdecker: In Ihrem Buch Nächste Ausfahrt Zukunft haben Sie auf Ihrem Smartphone einen Trojaner installiert, der praktisch jede Bewegung, jede Kommunikation aufgezeichnet hat. Was war die größte Erkenntnis?

 

Yogeshwar: Zum einen: Man fängt an, zum Verräter zu werden. Denn jeder, mit dem du sprichst, wird mit aufgezeichnet. Du kommst dir vor wie ein Spitzel. Die zweite wesentliche Erkenntnis war, dass im Nachhinein die Protokolle offengelegt wurden und ich Dinge sah, die ich längst vergessen hatte. Das heißt, ich wurde an Handlungen erinnert, die ich schon verdrängt hatte. Und dieser Art von Übermacht, genau zu wissen, was macht eine Person, wo macht sie es, mit wem redet sie – das ist beeindruckend. Heute ist es so, dass Menschen freiwillig Assistenten in ihre Wohnung stellen, wie Amazon Alexa oder Google.

 

Netzentdecker: Gibt es im Hause Yogeshwar eine Alexa?

 

Yogeshwar: Nein, hier gibt es keine. Sehr bewusst.

 

Netzentdecker: Wir sind unter uns?

 

Yogeshwar: Wahrscheinlich nicht, weil alle Handys sogenannte Backdoors haben, durch die etwa Geheimdienste Zugriff auf ein Mikrofon haben und unsere Daten eben nicht privat sind, so wie wir es uns erhoffen würden, sondern irgendwo zwischengespeichert werden. Beim Handy ist das vielleicht nicht legal im klassischen Sinne. Bei Amazon Alexa stimme ich dem zu. Menschen stellen sich also freiwillig Mikrofone in die eigene Wohnung, die alles mitaufzuzeichnen. Und ich sage sehr bewusst: alles.

 

Netzentdecker: Nachdem wir die Stasi verdammt haben.

 

Yogeshwar: Ja, das interessante sind die Patentanmeldungen bei Amazon, da steht explizit drin: Sniffer Algorithm, also Schnüffler-Algorithmus, wo es nicht nur darum geht: Was sagt der gerade?, sondern: Wie sagt er es? Verändert sich die Stimme bei bestimmten Themen? Wie, wann freut er sich? Wo wird gestritten? Dahinter läuft etwas ab, wofür wir keine Kultur haben, die uns überhaupt erst sensibel macht für Daten. Wir sind eine Gesellschaft, die die Grammatik der Privatheit kennt. Jemand hat ein Haus, da gibt es ein Grundstück und einen Zaun drumherum und eine Haustür, die ist zu. Da haben wir eine hohe Sensibilität entwickelt. Wenn jemand zur Tür reinspaziert und ein Buch nimmt, sagen wir: „Stopp mal, das geht nicht.“ Dafür haben wir eine rechtliche Grammatik. In der Datenwelt haben wir diese Grammatik überhaupt nicht. Das bedeutet, ich kann dich ständig beklauen, und du merkst es nicht. Ich kann rein- und rausspazieren aus deinem Leben, so wie andere rein- und rausspazieren in deine Wohnung. Aber die Sensibilität, die Gesetze, die Prozeduren, die Transparenz, wohin gehen diese Daten?, was wird damit gemacht? – alles das gibt es nicht. Das heißt, wir müssen schleunigst als Gesellschaft eine Grammatik entwickeln, wie wir mit Daten umgehen. Im Moment werden wir beklaut, was das Zeug hält.

 

Netzentdecker: Was tue ich jetzt als normaler Bürger, der ahnt: Dieses Gerät da hat eine Hintertür?

 

Yogeshwar: Drei Dinge. Das Erste ist: Wir brauchen ein Stück Bewusstsein. So ein Telefon gibt es erst seit elf Jahren. Das Zweite ist: Im Kontext des Bewusstseins noch einmal sehr genau zu verstehen: Wo gehen diese Datenströme hin? Wer hat sie? Auch zu verstehen, dass diese digitale Welt die Tendenz zur Monopolisierung hat. Und die Monopole liegen nicht in Zentraleuropa, sondern im Wesentlichen auf der einen Seite des Atlantiks, nämlich in den USA oder in China. Und das Dritte ist: Wir brauchen Gesetze, wir brauchen Verordnungen, wir brauchen Schutz. Ich vergleiche die digitale Welt immer mit einem neuen Kontinent. Da wird ein Land in völlig unzivilisierter Weise beschlagnahmt. Die Cowboys stecken die Claims ab ….

 

Netzentdecker: … und holen das Gold raus.

 

Yogeshwar: Es gilt das Gesetz des Stärkeren. Und irgendwann beginnt die Zivilisierung dieser Kontinente. Wo man Gesetze braucht. Wo man Regelungen braucht. Wo Gesellschaften sich Konventionen geben. Und in dieser Phase sind wir jetzt im Digitalen.

 

Netzentdecker: Welche Partei ist am weitesten im Sinne von „Bürger, ich schütze deine Daten“?

 

Yogeshwar: In Deutschland leider keine. Wir haben einige Politiker, die beim Datenschutz eine gewisse Sensibilität haben. Witzigerweise sogar welche, die lange dafür kämpfen. Gerhart Baum von der FDP ist uralt, aber immer noch erfüllt mit Leidenschaft für genau die Werte, die seine Partei damals ausgezeichnet haben.

 

Netzentdecker: Die Politik müsste doch ein Interesse haben, die ganzen möglichen Manipulationen und Klauereien zu unterbinden.

 

Yogeshwar: Ja, die permanente Erregungsbewirtschaftung, auch der Medien, kann uns Probleme machen. Neulich war ich in Japan, und der diesjährige Nobelpreisträger für Medizin erzählte eine Geschichte, die mich schaudern ließ: Es gibt eine einzige Impfung gegen Krebs, nämlich die Gebärmutterhalskrebsimpfung. Die ist wirksam, sie funktioniert. Aber was ist in Japan passiert? Dort gab es einige Fake-Berichte, die medial so hochgeschraubt wurden, dass die Impfquote von 70 Prozent im Jahr 2013 auf unter ein Prozent gefallen ist. Das muss man sich klarmachen: In Japan erkranken jedes Jahr etwa 27.000 Frauen an Gebärmutterhalskrebs. Etwas 3.000 Frauen sterben. Durch die Impfung wären diese Frauen zu retten. Durch Fake-News wird etwas, das total wirksam ist, außer Kraft gesetzt und kostet demnächst in Japan 3.000 Menschenleben im Jahr.

 

Netzentdecker: Und wie kann ich mich detoxen gegen diese falsche Aufregung?

 

Yogeshwar: Wir brauchen wieder mehr Forderungen an die Verantwortlichen. Wenn ich mir Talkshows angucke, die manchmal geradezu deprimierend über Themen reden, die nicht relevant sind und alles andere als informativ, die mehr auf Erregung und Konflikt setzen, muss ich mich melden und sagen: „Macht euren Job!“ Das heißt, wir brauchen ein Bewusstsein, das so stark wird, dass es sich auf die Politik auswirkt.

 

Netzentdecker: Erregung ist die neue Währung. Facebook oder Instagram oder Computerspiele verdienen damit, dass wir so lange wie möglich dranbleiben.

 

Yogeshwar: Und zugleich unglaublich viel preisgeben, so wie bei Instagram. Leute posten dort ständig ihr Gesicht. Es ist aber kein allzu großes Problem, einen Algorithmus zu schreiben, der Bildauswertungen macht und über einen gewissen Zeitraum feststellt: Oh, diese Person hat ein Alkoholproblem. Und diese Person ist depressiv.

 

Netzentdecker: Anhand von Instagram-Bildern?

 

Yogeshwar: Aber ja. Und es hilft nicht, nur bei Instagram anzusetzen. Wir müssen eine politische Entscheidung erzwingen: Liebe Instagramer, was macht ihr mit den Daten? Und bis wohin geht ihr, und was dürft ihr, und was dürft ihr nicht, und wir werden euch in die Karten gucken. Wir brauchen eine Offenlegung aller dieser Dienste.

 

Netzentdecker: Um das noch mal festzuhalten: Heute wissen wir nicht, was Apple, Facebook, Amazon, Microsoft, Instagram mit unseren Daten machen. Kann ich sicher sein, dass alle meine Google-Suchanfragen der letzten 20 Jahre gelöscht sind?

 

Yogeshwar: Nein. Kann niemand garantieren.

 

Netzentdecker: Bitte was Positives …

 

Yogeshwar: Ein Beispiel beschreibe ich in meinem Buch. Wenn man die Stimme eines Menschen genau untersucht in einer Zeitreihe, kann man feststellen, ob diese Person gerade im Begriff ist, Parkinson zu bekommen.

 

Netzentdecker: Da bin ich dem Datensammler dankbar, dass er mich darauf hinweist, was ich es selbst noch nicht weiß.

 

Yogeshwar: Ja, es gibt bei allem eine positive Komponente. Aber wenn die Krankenversicherung nun sagt, dass sie den Menschen mit Parkinson-Risiko lieber nicht als Kunden mag – was dann? Damit schleicht sich die Entsolidarisierung der Gesellschaft ein. Diese Entsolidarisierung beginnt heute schon, weil diese Apparate registrieren, ob ich aktiv bin oder nicht.

 

Netzentdecker: Joggen für die Krankenkasse?

 

Yogeshwar: Genau. Die normativen Kräfte, die da gesetzt werden, dürfen wir nicht unterschätzen. Sie kommen bei ganz trivialen Dingen wie dem Bearbeiten von Fotos. Überall perfekte Gesichter. Du guckst Deinen Partner an, und dann hat man viel zu besprechen, weil kein Mensch so aussieht wie auf den geschönten Bildern. Aber alle setzen sich unter Druck. Was passiert? Die ästhetische Medizin, die keine echte Medizin ist, gewinnt massiv an Zulauf. Irgendwann werden Falten eine Krankheit werden.

 

Netzentdecker: Plus Phänomene wie Bodyshaming bei den Kids, die schon mit elf sagen: Ich brauche ne Schönheitsoperation.

 

Yogeshwar: Oder: Ich rasiere mich im Genitalbereich, was die wahrscheinlich bei Pornos gesehen haben im Internet. Bis hin zu der Frage, wie man heute aufklärt: Früher haben wir erklärt, wie das geht beim Sex – heute muss man den Kindern sagen: Sex ist nicht das, was du in YouTube siehst. Das ist was anderes.

 

Netzentdecker: Schon mal Tinder probiert?

 

Yogeshwar: Auch so eine Falle, in die wir tapsen, dieses ewige Vergleichen. Wir vergleichen die Preise, und irgendwann fangen wir an, Menschen zu vergleichen: Der ist aber besser, und der ist höher gerated, und da gehen die Trefferquoten hoch. Das ist, glaube ich, ein fundamentaler Fehler, weil Vergleichen nicht die Basis von Leben ist. Keiner, der glücklich verheiratet ist, wird jeden Morgen aufstehen und sagen: Oh, ich vergleiche meinen Partner mit dem Angebot im Internet.

 

Netzentdecker: Wie geht man als Internet-Tiefgucker damit um? Auch Ranga Yogeshwar liefert ja artig seine Daten ab.

 

Yogeshwar: Die Daten werden geliefert, ob ich es will oder nicht. Es gibt ein paar Sachen, wo ich sehr sensibel bin. Also ich möchte wissen, wo ich meine privaten Daten habe. Die Cloud gehört nach Europa, weil sie anderen Gesetzen unterliegt als die großen Amazones oder Googles. Andererseits probiere ich alles aus und versuche, tiefer darüber nachzudenken. Man wird von mir aber kein Post finden, wo ich Frühstücksmenüs fotografiere. Ich hab eine Facebook-Seite und poste manchmal, wenn es mir wichtig ist. Und es gibt viele Menschen, die das gucken. Leute, die permanent quasseln, gehen irgendwann unter in einem Nebel der Daten. Das ist der Unterschied. Vor hundert Jahren war das Informationenbeschaffen das größte Problem. Heute ist die Herausforderung das Filtern von Informationen.

 

Netzentdecker: Haben Sie die Sicherheitseinstellungen überall optimiert?

 

Yogeshwar: Nein, aber ich habe mir letztens den Spaß erlaubt und meine Facebook-Daten heruntergeladen.

 

Netzentdecker: Und? Was wissen die grauen Hoodies?

 

Yogeshwar: Ich kriege damit ein ziemlich gutes Profil hin. Man merkt, dass viel gesammelt wird.

 

Netzentdecker: Um alle Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu lesen, braucht man angeblich ein halbes Jahr.

 

Yogeshwar: Und wir sind nun mal bequeme Wesen und klicken gern „Okay“, wenn die App fragt, ob sie Kontakte, Fotos, Mikrofon benutzen darf. Wir tapsen in diese Falle der Bequemlichkeit, aber jetzt ist so langsam die Zeit, aufzuwachen und zu sagen: Das ist kein Spiel mehr. Es wird ernst. Wir wissen, dass man politische Manipulation sehr systematisch betreiben kann. Über genau diese Kanäle. Wir erkennen immer mehr, dass diese Daten missbraucht werden können.

 

Netzentdecker: Und das Einfallstor ist unsere Bequemlichkeit?

 

Yogeshwar: Ja, das geht schon beim Tippen los. Wir bekommen Vorschläge für Wörter, und die sind verdammt gut. Das System lernt aus meinem Vokabular, und bald muss ich nur noch die Vorschläge auswählen. Der nächste Schritt wird sein, den Kunden nicht nur zu verstehen, sondern ihn zu einer Entscheidung zu bringen. Über welche Informationen sind wir so einzulullen, dass wir eine bestimmte Entscheidung treffen, ob Urlaubsziel oder Jacke? Die spannende Frage: Bin das noch ich? Ist da ein freier Wille? Oder werden wir, ohne es zu merken, in eine Richtung manövriert? Das ist das Ende von freier Entscheidungsfähigkeit in einer Gesellschaft.

 

Netzentdecker: Die künstliche Intelligenz wird immer schlauer. Wird es irgendwann zur finalen Schlacht kommen: Mensch gegen Maschine?

 

Yogeshwar: Die künstliche Intelligenz ist in einigen Bereichen extrem gut. Apparate sprechen mit Menschen, und die Menschen merken es nicht. Wir brauchen eine Kennzeichnungspflicht für Roboter, die mit Menschen reden.

 

Netzentdecker: Und was ist mit den Daten, die den Roboter steuern?

 

Yogeshwar: Das wäre eine weitere Forderung, die ich habe: Wir müssen Daten zertifizieren. Früher war es so, dass man ein Programm schrieb und dann Daten hineingab – Datenverarbeitung. Heute stellen die Daten selbst das Programm dar. Ich schütte Daten in eine Blackbox, die sich dann entsprechend selbst zusammenstellen. Das ist ein Prinzip, bei dem wir fragen müssen: Welche Daten geben wir denn rein? Die müssen wir zertifizieren. Wir müssen sicherstellen, dass wir nicht Vorurteile oder Fehler einbauen. Wir müssen sicherstellen, dass diese Maschinen kausal arbeiten. Das ist gar nicht so trivial. Ein neuronales Netz mit vielen Ebenen ist im Moment nicht durchschaubar. Also in anderen Worten: Du kannst nicht verstehen, warum die Maschine am Ende eine Entscheidung fällt. Das ist vielleicht in der Wissenschaft spannend, aber was passiert, wenn du einen Kredit beantragst, und die Bank sagt: Tut mir leid, der Algorithmus sagt: Nein, du nicht? Unser Rechtsverständnis lautet, dass ich ein Recht habe, zu erfahren, warum. Das ist Aufklärung, das ist Kausalität. Die Antwort kann nicht lauten: Weil der Algorithmus das sagt. Wenn wir so weitermachen, kommen wir in ein Zeitalter, wo wir digitale Orakel haben. Wo wir zurückfallen in eine Welt, die intransparent, willkürlich, mitunter schicksalhaft erscheint.

 

Netzentdecker: Angenommen, wir hätten eine künstliche Intelligenz, die sich moralisch, ethisch super korrekt verhält. Die sagt: Herr Yogeshwar, Sie haben Ihr Plastikkontingent für dieses Jahr erfüllt. Ab sofort dürfen Sie keine Plastikverpackung mehr kaufen. Dagegen kann man ja nichts sagen.

 

Yogeshwar: Das wäre eine digitale Diktatur.

 

Netzentdecker: Aber eine gute.

 

Yogeshwar: Was heißt gut? Natürlich hat jeder von uns seine Momente, wo er nicht ganz korrekt handelt. Das ist okay. Das ist menschlich. Das gehört dazu. Das müssen wir akzeptieren. Wir können uns nicht strangulieren lassen von einer Transparenz, die uns auf Schritt und Tritt kontrolliert. Das wird auf Dauer unerträglich. Das ist nicht menschlich. Das steht im Widerspruch zu einem Freiheitsgedanken, der jedem Menschen die Freiheit des Fehlermachens erlaubt. Ich halte wenig von diesen überoptimierten Gesellschaftsvisionen, bei denen alle Menschen sich nur noch brav und anständig verhalten. Wer definiert denn „anständig“? Es ist heute das Plastikkontingent und morgen der Umgang mit bestimmten Menschen.

 

Netzentdecker: Wenn mir meine Software jeden Tag sagt: „Gehe mal langsam ins Bett“, „Iss das lieber nicht“, „Spar dir das nächste Bier“ oder „Beweg deinen Hintern“, ist das doch erstmal sehr hilfreich.

 

Yogeshwar: Der große Kant schreibt: „Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Es ist bequem, Dinge rauszudelegieren, statt sie selber zu lösen. Aufklärung heißt, den unbequemen, aber spannenderen Weg zu gehen. Es gibt den Unterschied zwischen Auswählen und Entscheiden. Auswählen erfolgt unter vorgegebenen Optionen. Entscheiden kommt aus einem selbst heraus. Es ist der Prozess, bei dem man selbst, in seiner Art, in seinen Kategorien seinen Weg geht. Und wir müssen aufpassen, dass wir nicht in eine Auswahlgesellschaft hineinfallen. Wir sollten immer noch eine Entscheidungsgesellschaft sein.

 

Netzentdecker: Heißt das auch, dass jeder Bürger mehr technisches Verständnis braucht?

 

Yogeshwar: In Deutschland haben wir eher das Problem der Sättigung und  Selbstzufriedenheit. Was wir in Deutschland dramatisch verpassen, ist die Ausfahrt in die Zukunft. Wir haben zu wenig Kompetenzen. Kinder machen in Deutschland Abitur, ohne eine Programmzeile codiert zu haben.

 

Netzentdecker: Ein Plädoyer für Programmieren in den Schulen?

 

Yogeshwar: Ja, unbedingt! Nicht, um lauter Nerds zu produzieren, sondern um ein Gefühl dafür zu bekommen: Was kann man mit Algorithmen machen? Was steckt dahinter? Um mündigere Entscheidungen zu treffen, um im Business zu sagen: Ich hab da eine Idee und die grobe Vorstellung, wie man das machen könnte. Wir brauchen Menschen, die digital denken. In den USA haben fast 70 Prozent einen Chief Digital Officer, in Deutschland nicht mal 20 Prozent. In Deutschland haben wir die Nestoren des ehemaligen Fortschritts, die alle dasitzen und brav sagen: Wir sind groß, weil unsere Väter oder Großväter groß waren. Die merken natürlich auf der einen Seite, dass die schönen Tage vorbei sind. Auf der anderen Seite haben sie immer noch so viel Lobbykraft, dass sie die Politik massiv beeinflussen. Das heißt, große IT-Gipfel werden dominiert von den Großen und nicht von den Typen, die vielleicht die bessere Idee haben. Da findet ein Blockieren statt.

 

Netzentdecker: Mal ganz praktisch: Dieses ganze digitale Wissen ist für so ein Superbrain wie Ranga Yogeshwar gerade noch zu handhaben. Für mich eher nicht.

 

Yogeshwar: Ich bin kein Superbrain.

 

Netzentdecker: Gibt es Strategien, wie man sich mit dieser Riesenmenge Information arrangiert?

 

Yogeshwar: Ich glaube, wir sollten aufhören, in diesem Entweder-Oder zu denken, also: Entweder bin ich digital und starre hirnlos auf meinen Bildschirm oder ich bin der Mensch, der das Knistern des Papiers schätzt. Wir müssen uns stärker klar werden, dass jeder Fortschritt eine Bipolarität beinhaltet. Hans Rosling schreibt in seinem Bestseller Factfulness darüber, dass die Zahl der verkauften Gitarren pro Erdenbürger dramatisch nach oben gegangen ist. In Zeiten, wo wir das Gefühl haben, Musik nur noch in Streams zu hören, erleben wir gleichzeitig den Trend zurück zum aktiven Musizieren. Wir erleben diese Art von Bipolarität in ganz vielen Bereichen: Fußball kriegt man heute in HD-Qualität mit ganz vielen Kameras geliefert. Und was machen die Menschen? Die gehen raus zum Public Viewing, um mit vielen anderen zusammenzusitzen, auch wenn die Bildqualität vielleicht schlecht ist. Wir erleben das Sich-Hinauslehnen in das Neue und zugleich das Gegenteil, nämlich Verbundenheit mit Werten, die uns wichtig sind. Auf die Frage „Wo siehst du dich in fünf oder zehn Jahren?“, sagen Studenten: „Ich achte auf meine Work-Life-Balance. Ich möchte nicht nach China oder in die USA. Ich will in meiner Region bleiben. Meine Freunde sind wichtig.“ Das scheint eine Generation zu sein, die den Jägerzaun und die Doppelhaushälfte liebt. Aber genau diese Bipolarität passt zu einer Welt, die so unglaublich flüssig und unkalkulierbar und im stetigen Wandel ist.

 

Netzentdecker: Und was tut ein Analog Native wie ich jetzt?

 

Yogeshwar: Es herrscht Angst, weil Veränderung immer Angst bedeutet. Das ist ein altes Gesetz. Den Umgang werden wir als Gesellschaft erlernen müssen, weil die Veränderung in den nächsten Jahren noch viel dramatischer wird.

 

Netzentdecker: Das heißt, das ist erst der Anfang?

 

Yogeshwar: Unsere Kinder werden gegenüber unseren Enkeln einen noch größeren Wandel erleben. Und ich glaube, die Kultur des Wandels ist etwas, das wir in uns aufsaugen, mit allen Chancen, natürlich auch mit allen Widersprüchen. Aber wir sollten Lust darauf haben, weil wir verändern können.

 

Netzentdecker: Sollte ich mit Mitte 50 noch Programmieren lernen?

 

Yogeshwar: Auf jeden Fall, weil sich viele neue Fenster öffnen. Was wir brauchen, sind ja nicht die reinen Programmierer, sondern Menschen, die Bewährtes und Neues kombinieren. Ist doch toll, diese Erkenntnis: Hey, die Party wird noch schöner, je später es ist.

 

 

Lies doch auch Hajos Kolumne zum Gespräch mit Ranga Yogeshwar oder schaue dir ab morgen das Video an.