Eine unheimliche Männerbewegung mobbt und pöbelt sich durchs Netz. Befeuert der Incel-Kult den Terrorismus?

Vor einigen Jahren sorgte eine merkwürdige Anbandelungstechnik für eine gewisse Erregung unter Männern. In den USA behaupteten Pick-Up-Artists, zu Deutsch etwa „Anmachkünstler“, jede Frau von sich begeistern zu können. Tipps in Kursen und Büchern waren so aktuell und hilfreich wie Casanovas Memoiren, verbreiteten aber die irrige Annahme, dass Paarung ein Männerrecht sei und die vorbereitende Manipulation irgendwie natürlich. Die Herren Epstein und Weinstein dachten ähnlich über die Frauen als willfährige Sexmaschinen.

In amerikanischen Reality-Shows wurden damals junge Männer als „liebenswerte Verlierer“ bloßgestellt, die zugaben, noch nie eine Freundin gehabt zu haben. Weil die Tricks natürlich nicht funktionierten – auch Frauen lesen solche Bücher –, wuchs seither weltweit ein Verbund überwiegend junger enttäuschter Männer, die sich als Opfer moderner Weiblichkeit sahen und Frauen die Schuld an ihrem unfreiwilligen Zölibat gaben, englisch „Involuntary Celibate“, zusammengefasst und abgekürzt „Incel“.

Incels aller Länder, in analogen Zeiten vereinzelt, haben sich auf digitalen Wegen zusammengeschlossen, um ein bizarres Weltbild aus Selbstmitleid, Größenwahn und Frauenhass zu pflegen. Wie auch bei den Corona-Leugnern scheint eine möglichst krause Ideologie den Zusammenhalt noch zu stärken.

Ob sich bis zur Schließung ihrer Chatgruppe tatsächlich 40.000 Incel-Männer dort tummelten, ist nicht zu belegen. Kleine Social-Media-kundige Gruppen können auch kleinste Verbünde zu Scheinriesen aufblasen. Fest steht: Statt liebenswerter Verlierer pöbeln und jammern da aggressive Männer über Feminismus und alles, was mit dem Reizthema Gender zu tun hat. Eine aktuelle Recherche des Y-Kollektivs ergab, dass deutsche Incels oft auch von Rassismus-Erfahrungen und Ablehnung berichten; die meisten User sind zwischen 15 und 25 Jahre alt, die sich mit ihren Gewalt- und Rachephantasien bis hin zu Amokläufen brüsten.

Ein anderer Zweig der Incels behauptet, dass fremdländische den einheimischen Männern die „deutschen Frauen“ wegnähmen und zudem der Feminismus die „Geburtenrate“ und damit das eigene Volk bedrohe. Die Bundeszentrale für politische Bildung weist darauf hin, dass Rassismus, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit sich oftmals ergänzen und verstärken.

Die Attentäter von Christchurch, El Paso oder Dayton, der Norweger Breivik, der Todesschütze von Halle – alle erwähnten in ihren Pamphleten vor der Tat ihren Zorn auf Frauen. Der Todesfahrer von Toronto (zehn Tote im Jahr 2018) war ein erklärter Incel. In Kanada wurde unlängst die Anklage beim Prozess gegen einen Mörder, der aus Frauenhass handelte, erstmals auf Terrorismus erweitert.

Markierte der Pick-Up-Trend der Nullerjahre eine Art Startschuss, fand die Incel-Bewegung mit dem sogenannten Gamergate weltweite Beachtung. 2014 führten die angeblichen Affären einer Entwicklerin von Computerspielen zu globalem Aufruhr. Vor allem Zocker empörten sich kollektiv, zunächst gegen Frauen in der Spieleindustrie, später auch gegen Frauenrechtlerinnen allgemein. Anonyme Hetzer gaben offen zu, das Leben dieser Frauen zerstören zu wollen, inklusive Familien und Jobs. Zufall, dass der Archetyp des einsamen, teigigen Computerspielers nicht soweit entfernt ist vom mehr oder weniger liebenswerten Verlierer? Oder gibt es da Schnittmengen zwischen Nerd und Incel? Bis heute hält das digitale Stalking an, weshalb Gamergate als Mutter aller digitalen Niedermach-Kampagnen gilt.

Der berufsmäßige Hetzer Steve Bannon, Anführer der Breitbart-Bande, nannte die Incels „eine Armee, die man aktivieren kann. Wir haben sie für die Politik und für Trump gewonnen.“ Hilflos versuchen die großen Plattformen, nun auch die Incels mit ihren Gewaltphantasien zu verbannen. Doch kaum wird eine Gruppe geschlossen, poppt anderswo eine Neue auf. Auf die Moderatoren von Facebook, Twitter und all den anderen kommt die nächste undankbare Aufgabe zu.

 

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