Wie kann man Meinungsfreiheit fordern, aber Andersdenkende niederbrüllen? Digitaler Gruppendruck und Viertelwissen aus dem Internet machen´s möglich.

 

Der Kabarettist Florian Schroeder hat ein kühnes soziologisches Experiment gewagt. Auf Einladung einer Gruppe von Corona-Skeptikern fuhr der gebürtige Lörracher nach Stuttgart, um seine Landsleute einem Test auf offener Bühne zu unterziehen. Wie viele aus der kleinen, aber lauten Aluhut-Fraktion reklamieren die selbst ernannten Freiheitskämpfer aus der grün regierten Landeshauptstadt das Grundrecht der Meinungsfreiheit für sich. Die Erzählung ist bekannt: Unterdrückt von einer diktatorisch-reptiloiden Bundesregierung würden Masken- und Abstandsgegner mundtot gemacht: Die Nase-Mund-Bedeckung, „Merkel-Lappen“ genannt, sei ein Maulkorb. Adrett mit Schlips äußerte Kabarettist Schroeder nun vor einigen Hundert Schlechtlaunigen ganz unparodistisch seine Meinung: Zum Sinn von Schutzmasken und Abstand, zur Presse, von der er sich gut informiert fühle, zur Arbeit der Regierenden – muss man nicht teilen, aber in einer Demokratie akzeptieren. Die Reaktion aus dem angeblich so freiheitlich gesonnenen Publikum: Pfiffe, Buhs, Schmähungen, bisweilen so laut, dass Schroeder kaum zu hören war. Hätten seine Bücher ausgelegen, wären sie wohl verbrannt worden.

Selbst mittelpfiffige Grundschüler entdecken den Widerspruch, den dieses Experiment offenlegt: Was ist das für eine Meinungsfreiheit, wenn Andersmeinende niedergebrüllt werden? Und wie können sich Menschen, die im richtigen Leben durchaus in der Lage sind, einen Dreisatz zu lösen, auf die Straße stellen, um im Namen der Meinungsfreiheit die Meinung anderer zu schmähen?

Schroeders Experiment hat mindestens zwei gesellschaftliche Phänomene offengelegt, deren Wirkung digital massiv verstärkt wird. Da ist zum einen der Dunning-Kruger-Effekt, eine „kognitive Verzerrung im Selbstbild“ oder: die maßlose Überschätzung des eigenen Wissens nach oberflächlicher Lektüre eines Attila-Hildmann-Posts bei Instagram. Wie kommt es dazu? Ganz einfach: Was ins Weltbild passt, wird als wahr wahrgenommen, je widerspruchsfreier, desto einfacher. Weil die verdammte Realität fast nie widerspruchsfrei ist, Hetze aber fast immer, verbreitet sich Schlagwort-Wissen zu den üblichen Reizthemen, digital noch beschleunigt, sehr viel leichter als komplexe Erklärungen.

Und ein zweiter Effekt sorgt dafür, dass selbst offenkundiger Unsinn geglaubt wird – die Gruppendynamik. Für das soziale Tier Mensch hat das Zugehörigkeitsgefühl einen hohen Wert, die Angst vorm Ausgestoßenwerden ist immens. Versuche mit britischen Fußballfans ergaben, dass individuelle Gefühle wie Mitleid keine Chance gegen die Macht des Kollektivs haben. So wird ein verletzter Fan des gegnerischen Vereins liegengelassen, wenn die Horde es befiehlt. „Der Gruppendruck verzerrt das Denken der Gruppenmitglieder derart, dass sie nicht in der Lage sind, rationale Entscheidungen zu treffen“, sagt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner. So ist zu erklären, dass selbst vernunftbegabte Menschen die Indizien für den Klimawandel nicht wahrnehmen wollen, lieber lügen als ausgeschlossen und allein zu sein.

Mit der unheimlichen Macht der Gruppe lässt sich erklären, warum Zehntausende Menschen offenbar kein Problem damit haben, Freiheit zu reklamieren, ohne die gewähren zu wollen. Und das Internet hilft, diese Gruppen auch international zu stabilisieren. Die Umsonst-Kanäle bieten historische Möglichkeiten der globalen Gruppenbildung. Quertreiber, die früher mit Klassenkeile bestraft wurden, werden heute mit Shitstorms überzogen, vom gnadenlosen Schwarm mit wenigen Klicks exekutiert.

Ob das Publikum glaube, in einer „Corona-Diktatur“ zu leben, fragte Schroeder das Stuttgarter Publikum, das zustimmend johlte. Aber, entgegnete der Kabarettist, „dann dürftet ihr hier gar nicht stehen.“ Wieder Gejohle. Logisch ist das nicht. Aber Dunning-Kruger plus Gruppenzwang sind nun mal stärker als alle Tatsachen.

 

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