Es war nackte Panik, die Facebook und Twitter dazu brachte, den Unsinn, den Hass und die Manipulation auf ihren Netzwerken einzudämmen. Gut so.

 

Zu den putzigsten Paradoxien dieser US-Wahl gehörte das Agieren der großen Meinungsmaschinen im Silicon Valley, allen voran Facebook und Twitter, das die Tweets des künftigen Ex-Präsidenten sogar mit Warnhinweisen versah. Warum torpedierten die Milliardenkonzerne ihr eigenes Geschäft? Die Kernidee des sozialen Netzwerks ist ja brillant: Nutzer liefern kostenlos Inhalte und Daten, Künstliche Intelligenz passt auf, dass keine nackten Brüste zu sehen sind, die Daten werden für Werbezwecke versilbert, Inhalte, die viel Engagement versprechen, werden bevorzugt verbreitet, extremistischer Mist zum Beispiel.

Dreck schleudern, das gehöre zur Meinungsfreiheit, erklärte Facebook-Chef Mark Zuckerberg ausdauernd. Warum aber wurden dann kurz vor der Wahl die miesesten Hetzer plötzlich verbannt? Warum ließ der auf „Reibungslosigkeit“ versessene Zuckerberg plötzlich Bremsen beim geldbringenden Weiterempfehlungsalgorithmus einbauen, warum mehr Aufpasser einstellen? Warum verzichtete der Konzern auf Politik-Reklame? Weshalb also wurde auf Einnahmen verzichtet, während Ausgaben, vor allem für Personal, stiegen?

Die Erklärung: Der Schock über das eigene Versagen bei der Trump-Wahl 2016 saß tief. Was, wenn sich Trumps Widerwahl erneut auch auf das Wirken der digitalen Höllenmaschinen zurückführen ließe?

Die panische Eilfertigkeit der Netzwerkbetreiber, die so vorbildlich demokratisch aussieht, ist zugleich das Eingeständnis, dass manches aus dem Ruder gelaufen war, vermutlich sogar unabsichtlich. Denn es wurden ausgerechnet Funktionen gedrosselt, die bislang für satte Gewinne sorgten, gerade so, als würden deutsche Autobauer statt unsinnig aufgemotzter SUV plötzlich kluge Autos bauen.

Während Verschwörungsfreunde hinter dem Agieren der großen Internet-Konzerne gern ein finsteres Spiel sahen, ist die Realität wohl deutlich unspektakulärer: Es wirkte der Zufall. Steve Jobs ahnte von den revolutionären Dynamiken des iPhones und seinen Apps anfangs ebenso wenig wie die Google-Gründer planten, den klassischen Medienmarkt zu zerstören oder Amazons Jeff Bezos den Tod des freien Marktes ersann. Vieles geschah eher zufällig, gleichzeitig und beschleunigte einander solange, bis die digitalen Dämonen so übermächtig geworden waren wie einst der Besen, den Goethes Zauberlehrling aus Spaß probieren wollte.

Wer konnte ahnen, dass aus dem Werk einiger begnadeter Tüftler sich bis heute unheimliche Machtallianzen entwickelt haben. Auch freiheitliche Staaten interessieren sich für chinahafte Überwachungstechnologie, Extremisten untergraben parlamentarische Systeme, Konzerne versuchen Kunden, zu Kauf- und Abo-Robotern zu transformieren.

Weil IT und KI nicht nur Helfer, sondern zugleich Waffen sind, ist ein Systemkonflikt herangereift, wie ihn die Welt noch nicht erlebt hat. Es geht nicht mehr um den Klassiker „Staat gegen Markt“, sondern um ein Bündnis aus Konzernen, Staaten, Kartellen und Geheimdiensten, die allesamt dasselbe wollen: die umfassende Kontrolle des Individuums. Statt des freiheitlichen Menschen- oder Gesellschaftsbildes, auf dem unser Grundgesetz ruht, drängen Geschäftsmodelle und Machtsysteme nach vorn, die auf Ausrechenbarkeit und Steuerung basieren.

Über gut zwei Jahrhunderte haben wir unser Menschsein über den Zentralwert der unverhandelbaren Menschenwürde definiert, dem die Idee von Gleichheit innewohnte. Nun ersetzen scheinbar eindeutige Zahlen weite philosophische Begriffe. Wir sind nicht länger gleich, weil wir Menschen sind, sondern ungleich wegen unterschiedlicher Daten. Die Ranglistengesellschaft löst das Gleichheitsideal ab.

Es spricht für Facebook, Twitter und die anderen Netzwerke, dass sie aus vier Jahren Trump gelernt und ein wenig Verantwortung entdeckt haben. Eines muss allerdings auch klar sein: Wenn die sozialen Netzwerke wirklich ernsthaft gegen Hass, Manipulation und Polarisierung vorgehen wollten, dann müssten sie teure Prüfapparaturen aufbauen. Verlage und Sender kennen das Prinzip ­– es nennt sich Redaktion.

 

Seine digitalen Abenteuer beschreibt Netzentdecker Hajo Schumacher in seinem neuen Buch Kein Netz!: Geld, Zeit, Laune, Liebe – Wie wir unser wirkliches Leben zurückerobern (September 2020, Eichborn-Verlag).

Digitale und andere Themen in Corona-Zeiten behandelt Hajo Schumacher in seinem täglichen Mutmach-Podcast „Wir gegen Corona“.