Facebook sperrt Rechtsradikale, Twitter greift durch, YouTube macht sauber – viel zu spät gestehen die digitalen Plattformen ein, die Welt jahrelang mit Hassmüll geflutet zu haben.

 

Ich gestehe, ich habe eine Weile die Versprechen geglaubt, die aus dem Silicon Valley tönten. Dass wir unsere Erlebnisse mit aller Welt teilen und Freundschaften pflegen, dass wir eine Wissensgesellschaft werden, dass Krankheiten bald ausgerottet sind, dass Maschinen die schmutzigen Arbeiten erledigen und wir aus der Hängematte heraus kreativ sind. Stattdessen wuchsen Hass und Irrsinn, Covid-19 kam und ein neues Dienstboten-Proletariat.

Es ist dem Virus und Donald Trump zu verdanken, dass das Marketinggefasel endlich entlarvt wird. Die Pandemie und der US-Präsident haben als doppelverstärkendes Brennglas gezeigt, dass die Wahrheit am Ende eben doch nicht ganz auszubremsen ist: Die sozialen Netzwerke bilden die Welt nicht ab, sondern verstärken das Böse. Wir haben es nicht mit Medien zu tun, sondern mit Brandbeschleunigern, gefüttert von Manipulatoren, gegen die selbst garstigste Boulevard-Hetzer wie Menschenfreunde wirken.

Soeben hat eine Studie von Professor Kathleen M. Carley (Carnegie Mellon University) ergeben, dass mehr als die Hälfte jener Twitter-Stimmen, die für ein schnelles Wiederanfahren der US-Wirtschaft plädierten, gesteuerte Programme sind, sogenannte Bots. Carley untersuchte 200 Millionen Tweets und fand heraus, dass die öffentliche Debatte schon seit Februar über diese Bots manipuliert wird, mit 16 verschiedenen Strategien. Beherrschten die Programme bislang nur kleinere Manöver wie „Like“, führen moderne Varianten Aktivistengruppen zusammen („Bridging)“ oder bombardieren unliebsame Meinungen („Nuking“).

Parallel zur Studie ging beim Herausgeber der New York Times das Abschiedsschreiben von Bari Weiss ein. Die Kommentatorin kündigte, unter anderem, weil Twitter beim Blatt inzwischen die Rolle eines Oberchefredakteurs übernommen habe, so Weiss. Wie aber kann eine Plattform als derart mächtig wahrgenommen werden, wenn beim wichtigsten Thema des Jahres die Meinung von Bots herbeimanipuliert wird? Nie war deutlicher, wie die demokratische Debattenkultur durch die Polarisierungsmechanismen der digitalen Empörungsbewirtschaftung beschädigt wird.

Twitter? Twitter? Da war doch noch was. Ach ja, die Accounts zahlreicher Prominenter, unter anderem Barack Obama, sind unlängst gehackt und für schäbigen Bitcoin-Beschiss missbraucht worden. Man muss schon das Gemüt eines Schlachterhundes haben, um hier noch das Recht der Meinungsfreiheit zu bemühen, wie es Facebook-Chef Zuckerberg ausdauernd versucht.

Carleys Team untersuchte auch, wie Empörungen über diverse Plattformen hinweg inszeniert und verstärkt werden. Ein Ergebnis: Krawall-Webseiten, Facebook und Twitter spielen virtuos zusammen. Während das in Deutschland weithin unbekannte Netzwerk Reddit über seine Nutzer beispielsweise Faktenchecks und Warnhinweise bietet und neulich erst 2.000 Gruppen vorwiegend Verwirrter geschlossen hat, finden Hetzer bei Facebook und Twitter einen rechtsfreien Raum, ihre Hetze millionenfach zu verstärken. Fragen am Rande: Wer hat Angst, dass Corona die Wirtschaft bremst und die Wiederwahl gefährdet? Wer hat 2016 vor allem Facebook gezielt missbraucht, um seine Wahl zu gewinnen? Wer schreckt vermutlich vor keinem miesen Trick zurück?

In einem putzigen Reinlichkeitswettbewerb überbieten sich derzeit Facebook, Twitter und Google-Tochter YouTube beim Stilllegen von Hetzer-Accounts, was sich bislang angeblich nicht machen ließ. Haben die kostbarsten Unternehmen der Welt ihr Gewissen entdeckt? Eher nicht. Vielmehr herrscht nackte Panik, weil ein globaler Verbund von über 1.000 Werbekunden Facebook seit Wochen unter dem Slogan „Kein Profit aus Hass“ („Stop Hate for Profit“) boykottiert. Endlich. Womit der Beweis erbracht wäre, dass Facebook und die anderen reagieren. Wie immer gilt: It‘s the Economy, Stupid.

 

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