Früher waren Nachrichten Pflicht. Heute stresst der Weltuntergang im Sekundentakt. Hajo will sich mit medialem Slowfood entschleunigen.

 

 

Früher, als die Welt noch übersichtlich war, folgte jeder Abend demselben Ablauf: 18.30 Uhr Abendbrot, 19 Uhr Nachrichten. Ein ewiger Konflikt, denn exakt in dieser halben Stunde liefen die besten Serien wie „Väter der Klamotte“ oder „Trickfilmzeit mit Adelheid“. Vor dem Fernseher essen? Nur bei guten Noten. Kaum tauchte Dagmar Berghoff auf, setzten bei mir Gähnen und Rätseln ein, während meine Eltern staatsbürgerlich in das Gerät starrten. Eine Weile dachte ich, Willy Brandt sei ein geflohener Brite, vielleicht ein Agenten-Kumpel von Emma Peel oder Percy Stuart, weil ich „Außen-Mister“ statt „Außenminister“ verstand. Ansonsten waren Nachrichten langweilig, aber offenbar wichtig, weil der gesamte Tagesablauf darauf abgestimmt war.

Heute ist die Nachricht nichts mehr wert. Kaum etwas bleibt in Erinnerung, außer dass Reporter sehr besorgt in Mikrofone relevanzen und alles immer schlimmer wird. Ob Kriege, Preise, Krisen, Torjubel oder Parteienzoff – die meisten Nachrichten werden bis zur Unglaubwürdigkeit inszeniert. Donald Trump hat das Genre nun endgültig getötet. Was ist noch mal die Nachricht, wenn der US-Präsident im Anflug auf England das halbe Königreich beleidigt, um Stunden später im Palast seine Kratzfüße zu machen und zum Abschied einen Satz mit „historisch“ abzusondern? Muss man das erfahren? Nee. Ballastwissen. Kann weg. Trump hat News und Show unentwirrbar vermischt zu permanenter Krawallerie, die medial dankbar zu einer Serie ohne Anfang und Ende verarbeitet wird. Politik ist wie Privatfernsehen am Nachmittag – alle irre, nichts gilt, aber immer geht die Welt unter.

Dauernde Erregung ist so gesund wie eine Familienpackung Viagra jeden Morgen. Der Körper erschöpft, der Geist leidet an Stress, die Seele verzweifelt. Wer sich heute noch News antut, der lebt nicht gesund, sagt Googles früherer Produkt-Manager Tristan Harris, 34. Er hat die Bewegung „Time Well Spent“ mitbegründet. Gut genutzte Zeit ist für Harris vor allem die zwischenmenschliche, die jedoch konkurriert mit dem digitalen Feuerwerk in unser aller Smartphones, das permanente Wichtigkeit simuliert. Verhaltenspsychologen haben festgestellt, dass Suppentassen, die sich automatisch füllen, zu 73 Prozent mehr Verzehr führen. Das Smartphone ist unsere Suppentasse. Wir vertrödeln Zeit.

Die Neurologin Maren Urner, 34, hat gegen die Vermüllung unserer Hirne angeschrieben. Schluss mit dem täglichen Weltuntergang heißt ihr digitaler Diätberater, der erklärt, warum wir nicht freiwillig an der Netznadel hängen, sondern von einem tückischen Cocktail aus Technologie, Dramaturgie und Psychotricks verführt werden. Urner weiß: Unser Steinzeithirn ist für dauernden Alarm nicht gemacht, Angst und Zweifel überlagern die lebenswichtige Ressource Zuversicht. Da hilft nur Drama-Diät.

Aber sollen wir uninformiert durch die Welt taumeln? Nein. Nur schlauer. Medienkonsum ist wie Essen: Man kann ständig Zucker und Fett snacken oder dann und wann zu Gehaltvollem greifen. Mit Studienkollegen hat Maren Urner in Münster die Idee vom „Konstruktiven Journalismus“ in ein digitales Angebot übersetzt. Statt atemloser Angst-und-Alarm-News bietet „Perspective Daily“ täglich nur eine einzige Geschichte, ausführlich, fundiert und vor allem lösungsorientiert. Statt der hundertsten Krisenstory über die SPD würde Maren Urner fragen: Wie sind erfolgreiche Parteien heute aufgebaut? Welche Beispiele gibt es für das Comeback einer Traditionspartei? Welche Fehler sind zu vermeiden? Klingt zunächst banal, auf Dauer aber wird das Hirn sanft umprogrammiert: Die Welt ist noch dieselbe, aber unser gelerntes passives Problemverzweifeln wird ersetzt durch aktive Lösungsfreude. Schon William James, Begründer der amerikanischen Psychologie, wusste: „Unser Leben ist nichts anderes als das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.“