Angsthaben ist wie Dickwerden – eine Fähigkeit aus der Urzeit, die heute mehr zersetzt als nützt. Wer in Zeiten digitaler Panikmache für globale Zuversicht sorgt, hat den Friedensnobelpreis verdient, findet Hajo.

 

Neulich erklärte mir ein Hobby-Ethnologe, warum die Angst so mächtig ist. In den vielen tausend Jahren, da wir als Jäger und Sammler über die Erde streiften, hat Panik beim Überleben geholfen. Wer Angst hatte, griff nicht zu jeder Beere, trat nicht auf das wackelige Stück Felsen, suchte nicht tief in der Höhle nach der Ursache des Brummens. Abends am Lagerfeuer, sofern das schon erfunden war, machten die Hordenmenschen einander Angst, um sich zu schützen. Angsthaben ist wie Dickwerden – eine Überlebenstechnik von früher. Wer die Fähigkeit hatte, Polster anzulegen, der kam eher über den Winter als der Klapprige. Und Ängstliche lebten länger als Leichtsinnige. Wichtig war in beiden Fällen die Regulation: Hunger und Kälte fraßen das Übergewicht auf, die tägliche Angst wurde mit Ritualen des Zusammenhalts bekämpft. Tänze, Feste, Initiationen schufen immer aufs Neue seelische Balance. So wurden Fettleibigkeit und Paranoia vorgebeugt.

Digitalisierte Kommunikation beliefert die Welt in Echtzeit mit allen erdenklichen Angstmachern: Unfälle, Terror, Katastrophen ohne Ende, von denen der Mensch früher nie erfahren hätte. Jede Bestialität, sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, werde mit hohem Tempo durchs globale Dorf gejagt, was die Bewohner zunehmend überfordere. Uns fehlen entlastende Rituale gegen die Paranoia. So wachsen das Gereizte, die Wut und die Sehnsucht nach radikaler Entlastung, möge sie noch so schlicht sein.

Den Wunsch nach Entlastung bedient das Internet gleich mit. Denn das Netz ist nicht nur Angstmaschine, sondern auch ein trügerischer Vereinfachungsapparat. Die Lösung für jedes Problem heißt oft: Gewalt. Online werden alle Zutaten für ausufernde Gewalt geboten: quasi-religiöse Schriften, die Gewalt legitimieren, Anleitungen, Waffen, eine Bühne, Applaus für Gewalttäter, sogar eine Ruhmeshalle für Killer. Die Webseite „8chan“, die sich „dunkelste Ecke des Internets“ nennt, bietet angehenden Terroristen alles, was ein Attentat braucht. In einer Weltrangliste des Massakers werden Datum, Ort, Zahl der Toten sorgfältig notiert und bejubelt. Als historische Größen werden ein Norweger gefeiert, der viele junge Menschen ermordete, und ein Australier, der Jagd auf Muslime machte. In El Paso wurden vergangene Woche spanisch sprechende Menschen erschossen. Nahezu jeder Todesschütze war auf „8chan“ unterwegs, wo aus zunächst nur verwirrten Menschen die berüchtigten einsamen Wölfe werden können, die ohne Auftrag morden, einfach so, aus krankem Weltrettungswahn.

Der Unterschied zu IS-Terroristen, die Europa in Angst versetzen, ob in Madrid, Brüssel oder Paris? Praktisch keiner. Das Internet liefert allen das Märchen vom Märtyrer, der alle töten darf, die anders sind. Die Opfer sind Juden, Muslime oder Christen, Farbige oder Latinos und irgendwann jeder von uns. Wann werden die ersten Senioren erschossen, weil millionenfache Rente einfach zu teuer ist, wann wahllos Männer, aus Rache, weil nahezu alle Attentäter männlich sind? Es braucht nicht viel idiotische Phantasie, um jeden Erdenbürger aus irgendeinem Grund abzuknallen. Umso rätselhafter bleibt, warum Anti-Terror-Experten die Kommunikationskanäle des IS torpediert haben, terrorismusbegünstigende Webseiten in den USA aber vom Recht auf Meinungsfreiheit geschützt sind.

Am globalen Lagerfeuer ist für Angst und Schrecken jedenfalls gesorgt, die Menschen sind laut Professor Pörksen zunehmend verstört. Höchste Zeit, nun das seelische Gleichgewicht wieder herzustellen. Wo bleiben Rituale, die die wachsende Wut dämpfen, wo ist die Instanz, die den weltweiten Glauben an die gute, einvernehmliche Lösung stärkt? Wer in digitalen Zeiten für globale Zuversicht sorgt, hat den Friedensnobelpreis sicher.