Deutschlands oberster Digitalisierer Helge Braun über Bürgerkonto, Angst vor Jobverlust und sein liebstes Computerspiel.

 

 

Netzentdecker: Herr Braun, Sie sind nicht nur Chef des Bundeskanzleramtes, sondern auch Minister für besondere Aufgaben. Eine Ihrer ganz besonderen Aufgaben: die Digitalisierung Deutschlands. Wo lauern derzeit die größten Hemmnisse?

 

Braun: Zunächst einmal muss jeder Bürger Zugang zum Internet bekommen. Zu Hause möglichst Breitband-Anschluss und unterwegs eine tolle Mobilfunkabdeckung. Ganz Deutschland ärgert sich über Funklöcher. Das Zweite ist die Digitalisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat: digitale Verwaltung, Digitalisierung der Wirtschaft, also dass man auch mal ein digitales Produkt „Made in Germany“  in der Hand hält und nicht nur Dinge, die aus Kalifornien oder aus China kommen. Der dritte Bereich ist die  Veränderung der Gesellschaft. Wer früher seine Meinung verbreiten wollte, musste Flugblätter drucken und verteilen und hat trotzdem wenig Leute erreicht. Heute ist jeder eine Art Verleger und veröffentlicht seine Meinung. Regeln, die in der analogen Welt gelten, haben in der digitalen Welt auch zu gelten.

 

Netzentdecker: In Estland …

 

Braun: … bei uns im Kanzleramt kostet es fünf Euro, wenn jemand „Estland“ als Beispiel bringt. Bei allem Respekt für die Esten, aber die hatten es vergleichsweise einfach als kleines Land im Neuaufbau. Wenn man Digitalisierung von Grund auf neu plant, ist es einfacher, als wenn man viele Infrastrukturen vorfindet. Deutschland ist auch Opfer dessen, dass wir vor 30 Jahren schon angefangen haben. Da hat jeder für sich eine sehr spezifische Insellösung gebaut, und das passt heute alles nicht zusammen. Jetzt brauchen wir den Mut, eine gemeinsame große neue Lösung zu finden. Dieser Mut fehlt häufig. Also versuchen wir irgendwie alles zusammenzubringen, was schon da ist, und das sind dann oft so komplizierte Ideen und Vorhaben, die manchmal scheitern. Und wenn sie klappen, dann werden sie teuer, dauern lange und sind doch nicht perfekt.

 

Netzentdecker: Der estnische Botschafter Mart Laanemäe sagt, man brauche das eine große Thema, das den Bürgern sofort klarmacht: „Hey, hier spar ich Zeit. Hier spar ich Geld. Digitalisierung lohnt sich.“ Was könnte dieses Symbolthema in Deutschland sein?

 

Braun: Ich glaube, dass die Bürger interessiert sind an digitalen Lösungen. Alles, was das Leben einfacher macht, mögen wir. Und deshalb ist zum Beispiel dieses digitale Bürgerkonto für uns so wichtig. Sie müssen sich einen Benutzernamen und ein Passwort merken, und dann ist es ganz egal, ob sie bei Ihrer Stadtverwaltung, beim Land Berlin, in Hessen oder beim Bund eine Verwaltungsleistung in Anspruch nehmen. Immer die gleiche Anmeldung. Das macht es einfacher. Heute muss ich mich bei jeder Behörde einzeln anmelden, habe fünf Passwörter, zwei davon vergessen. Dann wird gefordert, dass man sich mit dem Digitalpersonalausweis anmeldet, damit es authentischer ist. Da fehlt einem das Lesegerät. Es muss Spaß machen und einfach sein, Leistungen im Internet in Anspruch zu nehmen.

 

Netzentdecker: Können Sie sich an Ihr erstes Digital-Erlebnis erinnern?

 

Braun: Da war ich noch Student.  Mein erster Computer hatte noch keine Festplatte, der war von der deutschen Firma Schneider, ein CPC.

 

Netzentdecker: Würden Sie sich selbst als digital begeistert bezeichnen?

 

Braun: Ich habe von Anfang an die Digitalisierung mitgemacht. Ich habe auch während meiner Zeit an der Universitätsklinik die klinischen Informationssysteme mitbetreut, also: Welchen Nutzen schaffen wir für die Patienten durch die Vernetzung der Daten? Das war eine medizinische Frage mit stark technischem Hintergrund. Ja, ich bin im beruflichen wie privaten Leben ein relativ digitaler Mensch.

 

Netzentdecker: Menschen wie ich, die an der Schreibmaschine gelernt haben, gehen heute in eine Redaktion, gucken den jungen Menschen über die Schulter und haben ein großes Fragezeichen über dem Kopf: Was tun die da? Mein Beruf hat sich radikal verändert.  Können Sie nachvollziehen, dass meine Generation Befürchtungen hat, dass der Arbeitsplatz wegfällt?

 

Braun: Diese Debatte müssen wir ganz aktiv aufnehmen. Diese Angst schlummert ja in jedem von uns. Einerseits die Begeisterung für das Neue, was das Leben leichter macht, auf der anderen Seite die Sorge vieler, ob sie all die Jahre, die sie noch arbeiten wollen oder müssen, nicht irgendwann mal überfordert sind oder sogar arbeitslos werden. Manche Studien behaupten, dass fünf Millionen Arbeitsplätze vielleicht wegfallen. Also brauchen wir ein bedingungsloses Grundeinkommen und schicken die Leute nach Hause. Ich finde das eine fürchterliche Vorstellung und kämpfe deshalb massiv dagegen. Ich habe dazu beigetragen, dass im Koalitionsvertrag dieser Regierung steht: Wir wollen Vollbeschäftigung mit Digitalisierung. Und das ist möglich. An der TU München werden Industrieroboter von der Bedienung her so einfach gemacht, dass Kinder schon spielerisch lernen, wie man mit denen arbeitet. Der Mensch bleibt – und das sagen alle Digitalisierungsforscher – der Technologie noch über Jahrzehnte völlig überlegen, weil er viel flexibler ist. Mit der Unterstützung der Technik können wir auch in Deutschland in Zukunft Vollbeschäftigung erreichen. Da ist für jeden Platz und nicht nur für denjenigen, der sich fast zum Nobelpreisträger qualifiziert hat.

 

Netzentdecker: Eine besondere Digitalisierungseuphorie am Arbeitsplatz lässt sich in Deutschland aber nicht beobachten.

 

Braun: Generell brauchen wir mehr Weiterbildungsbegeisterung. Wir sind im Verhältnis zu anderen Ländern ein bisschen hinten dran. Und deshalb haben wir im Koalitionsvertrag gesagt: Wenn der Arbeitgeber einen Zuschuss für eine Weiterbildung gewährt, gar nicht mal, weil man es für den Arbeitsplatz braucht, sondern damit man in der ganzen Breite seines eigenen Berufs den Überblick behält und sich an neue Technologien auch ein Stück gewöhnen kann, dann wollen wir das in Zukunft steuerfrei stellen, damit man das nicht als Lohn versteuern muss. Mit unserem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und mit der Bundesagentur für Arbeit arbeiten wir daran, dass wir gute Fortbildungen anbieten, gute Sicherheitsinformationen im Netz, gute Information darüber, wie man seine Privatsphäre schützt. Unser Anspruch muss ja sein, dass sich alle sicher im Internet zu bewegen, ohne IT-Profi zu sein.

 

Netzentdecker: Wie ist es für den Chef des Bundeskanzleramtes? Wo bräuchten Sie persönlich Fortbildung?

 

Braun: Dazu gehört sicher die Blockchain-Technologie. Da braucht man einen Moment, bis man mal verstanden hat, was dahintersteht und wo das Potenzial liegt. Muss ich da als Staat Regeln verändern? Da würde ich manchmal gern Mäuschen spielen bei denen, die sich damit beschäftigen. Dafür bleibt bei meinem Job keine Zeit. Dafür haben wir den Digitalrat gegründet, als Beratungsgremium der Bundesregierung. Zehn Leute aus der ganzen Welt, die im Silicon Valley waren, in Israel, die aus Start-Up-Unternehmen kommen, mit denen treffen wir uns regelmäßig, und die müssen uns diese Nachhilfestunden geben, damit wir wissen: Wo müssen wir noch viel schneller und viel besser werden?

 

Netzentdecker: Würden Sie sagen, Ihr Bundeskanzleramt ist schon weit bei der Digitalisierung? Bewegen Sie noch viel Papier oder regieren Sie vom Tablet-Computer?

 

Braun: Mittlerweile beides. Es gibt ja schon das E-Kabinett, also die Kabinettvorlage, wenn alle Minister am Mittwochmorgen zusammenkommen, um Beschlüsse zu fassen. Das machen wir seit Beginn dieser Legislaturperiode komplett elektronisch auf dem Tablet. Die Vernetzung über die Ministerien hinweg, also eine einheitliche E-Akte, einheitliche E-Gesetzgebung, das sind Projekte, an denen wir arbeiten. Die sind noch nicht im Realbetrieb, aber wir kümmern uns darum, dass das schnell funktioniert. Viele Projekte sind zu groß geplant. Da muss man mal klein anfangen und die dann schrittweise entwickeln. Da sind wir mit Hochdruck dabei.

 

Netzentdecker: Wenn man einer künstlichen Intelligenz alle politischen Entscheidungen, die es in den letzten 70 Jahren gegeben hat, einspeisen würde und auch die Resultate, was dabei herausgekommen ist – wird irgendwann eine Software besser regieren als der Mensch?

 

Braun: Eine englische Forschungseinrichtung hat sich mal Gedanken gemacht, welche Berufe werden eigentlich in Zukunft besonders von Digitalisierung beeinflusst, welche Tätigkeiten können durch digitale Dinge entlastet werden. Da ist die Politik relativ auf der sicheren Seite. Der Beruf erfordert so viel an logischem Handeln und Denken, aber auch beim Herstellen von gesellschaftlichem Konsens, das wird noch eine Weile von Menschen gemacht werden. Aber die Art, wie wir miteinander kommunizieren, wie wir Entscheidungen fällen und finden, da wird sich massiv was verändern.

 

Netzentdecker: Also Assistenzsysteme für das Regieren?

 

Braun: Eher Transparenzsysteme. Wir arbeiten jetzt zum Beispiel daran, eine Plattform aufzubauen, wo wir jeden Gesetzesentwurf, den wir als Regierung machen, erstmal online zur Verfügung und damit zur Debatte für alle stellen, die dazu Kommentare oder Verbesserungsvorschläge haben. DieLeute sehen, was sich verändert und warum. Dadurch wird klar: Wer kommuniziert wie mit uns, wer hat welche Interessen, wie haben wir darauf reagiert, wie sieht der Gesetztesentwurf aus, wenn wir ihn verabschieden?

 

Netzentdecker: Können Sie als Wissenschaftler den Begriff Algorithmus erklären?

 

Braun: Ein Algorithmus besteht aus mehreren hintereinander gereihten Formeln. Das ist kein Hexenwerk. Früher hat man als Mathematiker gesagt: Wenn eine Gleichung mehr als drei Variablen hat, wird es schwierig. Vier sind hochkompliziert, nur noch für Experten. Ab fünf kann man abwinken. Heute sind Algorithmen eben Formeln, wo Tausende und Abertausende von Variablen eingehen und ein Ergebnis produziert wird. Das ist schon hochspannend, weil man sehr sehr komplizierte Zusammenhänge plötzlich entdecken und daraus Schlussfolgerungen ziehen kann.

 

Netzentdecker: Gibt es Länder auf der Welt oder in Europa, wo Sie sagen, die sind Vorbild?

 

Braun: Die Dänen haben das Thema der Gesundheitskarte, der Patientenakte, des Bürgerkontos etwa 2005 in Angriff genommen und sind heute in Europa führend. Davon können wir ein ganzes Stück lernen. In drei Jahren wollen wir das auch geschafft haben. Manchmal ist es hilfreich, aus den Fehlern anderer zu lernen aber mir wäre lieber, die anderen lernen auch mal aus unseren Fehlern, weil wir vorne sind.

 

Netzentdecker: Wie viele Smartphones haben Sie persönlich?

 

Braun: Zwei, dienstlich und privat.

 

Netzentdecker: Und wenn hier im Kanzleramt mal ausnahmsweise so gar nichts zu tun ist, kann man Sie dann auch mal am Rechner erwischen, wo Sie Computerspiele spielen? Sind Sie ein Zocker?

 

Braun: Also der Fall, dass hier gar nichts los ist …

 

Netzentdecker: … hypothetischer Fall …

 

Braun: Ich mag tatsächlich Computerspiele.

 

Netzentdecker: Was ist da Ihr Favorit?

 

Braun: Als Mediziner ist Plaque Inc. mein Favorit.

 

Netzentdecker: Huch, das ist doch dieses Seuchenspiel?

 

Braun: Man lernt, wie sich Krankheiten verbreiten. Es handelt sich um ein „Serious Game“, also ein Spiel, bei dem man ernsthaft Informationen sammelt. Man lernt spielerisch: Wie verbreitet sich ein Virus? Wie verbreitet sich ein Bakterium? Wo ist der Unterschied? Und das sind ganz tolle Möglichkeiten, Menschen an ernste Themen heranzuführen. In einer natürlich nicht immer völlig ernstzunehmenden spielerischen Weise.

 

Netzentdecker: Sie dürfen nur eine App auf dem Handy haben, neben den dienstlichen: Welche wäre das?

 

Braun: Die von Eintracht Frankfurt.

 

Netzentdecker: Wir haben den Auftrag, Ihnen von Mathias Richel, das ist so ein Internet-Mensch der ersten Generation, eine Frage zu stellen: „Warum redet die Regierung immer nur über Chancen, die man wahrnehmen müsse? Wann werden sie endlich ergriffen?“

 

Braun: Ich glaube, wir ergreifen sie den ganzen Tag. Wir sind in Deutschland noch ein bisschen kritisch gegenüber dem, was wir selber tun. Aber wir haben jetzt eine Strategie zum Beispiel vorgelegt für künstliche Intelligenz. Und da haben alle gesagt: „Endlich macht ihr da mal was“. Dafür fördert die Bundesregierung künstliche Intelligenz seit 30 Jahren. Und die Kerntechnologie, die momentan alle so begeistert, das sogenannte Deep-Learning, ist in Deutschland an einer deutschen Universität entstanden. Mit Fördergeldern des Bundes. Wir machen bei der Forschung schon lange viel. Wir sind im Industriebereich, was die Digitalisierung angeht, total stark. Wir sollten uns nicht immer so schlecht reden.