Professor Gerd Gigerenzer, Risikoexperte und Bildungsforscher, über Facebook-Gebühren, den Rückgang von Teenager-Schwangerschaften und das Ende der Demokratie.
Netzentdecker: Ich bin aus persönlicher Betroffenheit bei Ihnen. Ich spüre eine gewisse digitale Verunsicherung. Schaffe ich es aus meinem alten analogen Denken und Lernen ins digitale Zeitalter? Wie gehe ich um mit den vielen neuen Möglichkeiten?
Gigerenzer: Bleiben Sie bei den guten analogen Methoden, wo sie nützlich sind und nehmen Sie das vom Digitalen, was für Sie zusätzlichen Nutzen bringt.
Netzentdecker: Werden Menschen dümmer, die nicht mehr lesen und schreiben, sondern tippen und wischen?
Gigerenzer: Natürlich macht das einen Unterschied, aber man wird nicht notwendigerweise dümmer. Wenn Sie ständig tippen, dann können Sie Ihren Namen bald nicht mehr leserlich schreiben. Und es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass beim analogen Lesen das Verständnis des Gelesenen besser ist.
Netzentdecker: Das Digitale bietet Bilder, Filme, Grafiken statt langweiliger Schwarz-Weiß-Texte. Ein Fortschritt?
Gigerenzer: Wenn ständig Fenster aufpoppen und die Aufmerksamkeit weglenken, hält das einen davon ab, den Text wirklich zu verstehen.
Netzentdecker: Woher weiß ich denn, was eine gute Information für mich ist?
Gigerenzer: Eine entscheidende Frage: Zunächst muss man lernen, wo man im Internet verlässliche Informationen findet. Nehmen wir mal Gesundheitsinformationen, die die meisten Menschen suchen. Diese Informationen sind im Internet in der Regel unzuverlässig. Warum? Weil jemand Ihnen was verkaufen oder Sie beeinflussen möchte. Haben Sie schon mal von IQWIG gehört?
Netzentdecker: Das Institut, das die Leistungen des Gesundheitswesens prüft.
Gigerenzer: Exakt. Das IQWIG hat eine Website, die verlässliche Informationen bietet, wird sich aber nicht unter den ersten Treffern einer Google-Suche finden. Hier könnte die Politik helfen, verlässliche Informationen zu stärken.
Netzentdecker: Früher hätte ich den Apotheker gefragt.
Gigerenzer: Ja, das war aber auch nicht ungefährlich. Ich persönlich wäre für eine Positiv-Liste von Internetseiten. Bei einer Prüfstelle kann sich jeder bewerben, der bei einem Medikament nicht nur vom Nutzen berichtet, sondern auch von Nebenwirkungen, die bewiesen sind. Nicht Google sollte über die Wichtigkeit einer Seite entscheiden, sondern objektive Kriterien.
Netzentdecker: Was bedeutet digitaler Fortschritt für Sie als Professor? Hat sich Ihr Anteil an handschriftlichem Schreiben verringert?
Gigerenzer: Schaden bedeutet für mich, dass meine Aufmerksamkeit ständig unterbrochen oder gestohlen wird. Ich habe im Moment mein Handy nicht dabei.
Netzentdecker: Fällt Ihnen das schwer?
Gigerenzer: Überhaupt nicht. Ich habe es in der Regel ausgeschaltet, weil ich sonst ständig kontaktiert werden würde. Viele von meinen Studenten sitzen vor ihrem Computerschirm und schreiben einen Text, aber gleichzeitig läuft die E-Mail oder irgendein anderes Programm. Viele von den Studenten warten nur darauf, dass sie unterbrochen werden. Sie können sich vorstellen, wie die Qualität des Textes ausfällt. Wenn ich das lese, sehe ich manchmal: „Aha, an dieser Stelle ist er mal wieder unterbrochen worden.“
Netzentdecker: Gibt es weitere Folgen für die Wissenschaft?
Gigerenzer: Die Digitalisierung hat die Quantifizierung in der Wissenschaft verstärkt, also den Druck, Menge zu produzieren. Dieser Trend wird verstärkt durch Berufungskommissionen, die zählen statt zu lesen. Das halte ich für eine negative Entwicklung. Wenn jemand einen guten Artikel pro Jahr schreibt, ist das besser als sieben, die Bekanntes wiederholen.
Netzentdecker: Es gibt diese Theorie, dass jede Interaktion insbesondere mit dem Smartphone kleine Schübe des Belohnungshormons Dopamin im Hirn freisetzt, eine Art Kurzerregung. Begünstigt digitale Kommunikation eine körperliche Abhängigkeit?
Gigerenzer: Diese Abhängigkeiten gibt es tatsächlich, etwa bei Computerspielen. Da möchte man noch ein paar Punkte mehr machen. Und die Abhängigkeit wird von den Entwicklern eingebaut, was wiederum psychische Probleme verstärken kann. Der Erfinder des Like-Buttons hat gesagt, er hätte diesen Knopf besser nicht erfunden. Denn das hat ganze Generationen abhängig gemacht vom Like. Aus Umfragen mit Jugendlichen wissen wir, dass Instagram das eigene Körpergefühl nach unten zieht.
Netzentdecker: Alle sind perfekt, nur ich nicht.
Gigerenzer: In Großbritannien wurden Jugendliche gefragt, ob soziale Medien das Lebensgefühl in bestimmten Bereichen verändert haben. YouTube ist im Schnitt leicht positiv, alle anderen Dienste werden von den Jugendlichen als negativ beurteilt, weil sie ihr eigenes Lebensgefühl verschlechtern, aber auch so einfache Dinge wie Schlaf. Die jungen Menschen kommen nicht mehr zur Ruhe. Bestimmte Dienste verlangen, dass Sie sich alle 24 Stunden melden, sonst verlieren Sie Ihre Punkte. Dieser Stress kann auch reifere Menschen treffen.
Netzentdecker: Wie schafft man es wie Sie, das Handy einfach auszustellen oder im Büro liegen zu lassen? Muss man erst bei einem Suchttherapeuten gewesen sein?
Gigerenzer: Das kann man einfach machen. Es hilft, wenn man weiß, dass jeder und jedem von uns eine Heerschaar von Psychologen und IT-Leuten gegenübersteht, die nur ein Ziel haben: uns daran zu hindern, ein bestimmtes soziales Medium zu verlassen. Es ist ein Kampf um die eigene Zeit.
Netzentdecker: Das heißt: Ich stehe einer Bande von digitalen Dealern gegenüber, und das Smartphone ist die Nadel.
Gigerenzer: Ja, und das Ziel ist ganz klar: Die Unternehmen finanzieren sich über Werbung, und die Werbung zahlt mehr, je länger die Menschen dranbleiben.
Netzentdecker: Sind Sie in sozialen Medien unterwegs? Twitter, Facebook, Instagram?
Gigerenzer: Nein, ich habe die Zeit nicht dafür.
Netzentdecker: Fühlen Sie sich vereinsamt oder bedeutungslos?
Gigerenzer: Im Gegenteil! Die Studien zeigen ja: Je mehr Sie auf sozialen Medien unterwegs sind, desto einsamer fühlen Sie sich. Das ist eines der klarsten Ergebnisse, die wir haben. Das Gefühl der Einsamkeit entsteht gerade dadurch, dass Sie sich nur noch digital mit Menschen verknüpfen.
Netzentdecker: Beobachten Sie auch einen Verlust sozialer Kompetenzen?
Gigerenzer: Gerade bei jungen Leuten geht die Mobilität zurück. Viele sitzen lieber zu Hause, weil sie das Gefühl haben, mit der Welt verbunden zu sein. In den USA gibt es einen spürbaren Rückgang von Teenager-Schwangerschaften. Sie können digital halt nicht schwanger werden. Zugleich ist das Gefühl der Einsamkeit nach oben gegangen, obwohl sie mehr Facebook-Kontakte haben. Zugleich wird berichtet, dass die Zahl von ernsthaften Selbstverletzungen und ernsthaften Suizidgedanken nach oben geht. Insbesondere bei jenen, die auf Instagram sind. Es kann natürlich sein, dass diejenigen, die eh schon depressiv sind, dann viel mehr auf sozialen Medien unterwegs sind.
Netzentdecker: Und wie komme ich aus der Abhängigkeit raus?
Gigerenzer: Hier könnten die sozialen Medien selbst helfen. Man könnte eine Warnung geben, wenn ein Nutzer pro Tag eine bestimmte Stundenzahl auf Facebook oder Instagram überschreitet. Das wäre zum Beispiel eine moralische Aufgabe für Facebook.
Netzentdecker: Dann käme so ein Warnhinweis …
Gigerenzer: … „ab jetzt wird es ungesund“ …
Netzentdecker: … wie ein Zigarettenschachtelaufdruck.
Gigerenzer: Das wird nicht bei jedem wirken, aber es wird einigen helfen, wenn Facebook selbst das sagt.
Netzentdecker: Was bedeutet der digitale Fortschritt für unser Bildungssystem?
Gigerenzer: Dass wir die Schulen revolutionieren müssen.
Netzentdecker: Mit dem Digitalpakt Schule investiert die Bundesregierung fünf Milliarden Euro.
Gigerenzer: Aber vor allem in Geräte. Ein wirklicher Digitalpakt müsste jungen Menschen helfen, die sozialen Medien und andere digitale Dinge zu kontrollieren, statt von ihnen kontrolliert zu werden. Von Jugendlichen wird immer wieder berichtet, dass sie den Suchtfaktor als Autonomieverlust empfinden, aber sie können nicht raus aus dieser Falle. Weil man dann seine Freunde verlieren würde, obwohl das vielleicht nicht die richtigen Freunde sind. Soziale Medien wollen Werbung verkaufen und nicht Freundschaften stiften. Deswegen könnte man auf politischem Wege daran gehen, Facebook oder YouTube kostenpflichtig zu machen, und dafür verschwindet die Werbung. Dann hätten wir eines der großen Probleme gelöst.
Netzentdecker: Sollte es in den Schulen Digital-Unterricht geben?
Gigerenzer: Ja, und zwar sehr früh. Für kleine Kinder gibt es einen Bausatz, ein Bett für das Handy. Kinder lernen in dem Moment, in dem sie ein Handy bekommen, das Handy in dieses Bett zu legen, wenn sie selbst ins Bett gehen. Solche Faustregeln sind nützlich: Handy nicht beim Essen, zeitliche Begrenzung, nur ein Medium – wenn der Fernseher läuft, dann alle anderen Geräte ausschalten.
Netzentdecker: Ist Multitasking ein Mythos?
Gigerenzer: Eine der sichersten Erkenntnisse der Psychologie lautet, dass Multitasking die Qualität jeder einzelnen Komponente reduziert.
Netzentdecker: Sie googeln nicht beim Fernsehen?
Gigerenzer: Ich habe überhaupt keinen Fernseher. Aus Selbstschutz. Wenn ich um zehn Uhr abends müde bin, dann würde ich das Ding wahrscheinlich einschalten, ein paar Stunden verschwenden, weil ich am nächsten Tag gar nicht mehr weiß, was ich da gesehen habe. Und das beste Gegenmittel: kein Fernseher.
Netzentdecker: Mit Ihrer digitalen Abstinenz würden Sie sich in China verdächtig machen. Dort soll es in Zukunft Pluspunkte für anständiges Verhalten geben, was wiederum über das Smartphone kontrolliert wird.
Gigerenzer: Diese Entwicklung sollte Sie deutlich mehr beunruhigen als Ihre vermeintliche digitale Mangelkompetenz. Die chinesische Regierung will ab 2020 jedem Bürger einen Wert geben, der alles umfassen soll, ihr soziales, ihr politisches Verhalten, ihr Verkehrsverhalten, alles, was man messen kann, am Arbeitsplatz oder privat. Das ist ein Wert für Vertrauenswürdigkeit. Möchten Sie nicht wissen, wie vertrauenswürdig jemand ist, den Sie gerade kennenlernen? Da nimmt man sein Handy mit Gesichtserkennungssoftware, dann hat man den Namen und den Sozialkreditwert.
Netzentdecker: Das heißt, mein Smartphone zeigt mir: Prof. Gigerenzer hat einen tollen Social-Score von 9,8 von 10 …
Gigerenzer: … den können Sie interviewen …
Netzentdecker: … und wenn ich nur 2,4 Punkte habe …
Gigerenzer: … dann bekommen Sie kein Interview.
Netzentdecker: Was macht das mit einer Gesellschaft?
Gigerenzer: Das System ist ein kollektives System, das auch die Beziehungen betrifft. Wenn Sie in Ihrer Familie Personen haben, die einen niedrigen Score habe, geht ihr eigener auch runter.
Netzentdecker: Das heißt, wenn meine Kinder was anstellen, fällt mein Wert?
Gigerenzer: Ja oder umgekehrt. Wenn Sie denken, Sie können sich da raushalten, dürfen Ihre Kinder möglicherweise nicht mehr die besten Schulen besuchen. Dann werden Ihre Kinder Ihnen schon sagen, dass Sie sich bitte anpassen. Ein solches System wird in China die Moral der Bevölkerung erhöhen … Wir wissen aus Einzelberichten schon heute, dass Autofahrer, die früher die Fußgänger nicht beachteten, heute am Zebrastreifen halten.
Netzentdecker: Werden wir ein solches System eines Tages in Deutschland einführen?
Gigerenzer: Von politischer Seite eher nicht, aber von kommerzieller Seite ist es möglich. Und denkbar. Wir haben ja heute schon Firmen, die Daten über viele Lebensbereiche sammeln. Die Gefahr ist, dass die Firmen einen kommerziellen sozialen Kreditwert anbieten. Und dann wird es einen Markt geben.
Netzentdecker: In einer Wohnanlage, wo nur Menschen mit einem hohen sozialen Wert leben, kann man die Miete erhöhen?
Gigerenzer: Ja oder Sie erkundigen sich erstmal, bevor sie einziehen, was die anderen für einen Wert haben. Es kann ganz gut sein, dass solche Computerprogramme zunächst in Ländern eingeführt werden, die ein bisschen ähnlich autoritär ausgelegt sind, so wie Thailand, Singapur oder auch Ungarn oder Türkei. Wenn es genügend Staaten gibt, die entdecken, dass es eine Alternative zur Demokratie gibt, die funktioniert im Sinne, dass die Bürger arbeiten, um Punkte zu bekommen, dass sie sich moralischer verhalten und ökonomisches Wachstum schaffen, dann wird es eine Gefahr für unsere Demokratie.
Netzentdecker: Wo lauert die Gefahr, wenn die Menschen sich anständiger benehmen?
Gigerenzer: Viele meiner chinesischen Freunde sagen: „Wir haben keinen Brexit, wir haben keinen Trump, wir brauchen nicht so unendlich lange, um irgendwas zu entscheiden, wie in Deutschland. Wenn wir eine Stadt wollen mit Elektrobussen, dann machen wir das, dazu brauchen wir nicht zehn Jahre.“
Netzentdecker: Und wir können nicht mal einen Flughafen bauen.
Gigerenzer: Es gibt viele, auch gut gebildete Menschen, die der Meinung sind, dass die Demokratie ein Auslaufmodell ist.
Netzentdecker: Gibt es Daten darüber, was die Deutschen von diesen digitalen Moralmodellen halten?
Gigerenzer: 90 Prozent der Deutschen möchten das nicht, aber 10 Prozent sehr wohl. Geht es um ein Punktesystem im Gesundheitsverhalten oder beim Verkehr, dann begrüßen das ungefähr ein Viertel der Deutschen. Das heißt, man kann sich eines Tages mehrheitlich entschließen: Wir wollen keine Demokratie mehr.
Netzentdecker: Lassen Sie uns dystopisch werden, das ist meine Hauptbeschäftigung als Journalist. Die Chinesen fangen an damit, und es funktioniert. Die Inder machen es nach, und es funktioniert auch. Dann haben sie schon mal fast drei Milliarden Menschen. Gibt es irgendwann eine Unausweichlichkeit, dass die anderen Länder nachziehen müssen, weil zum Beispiel chinesische Touristen sagen: Ich fahre nur noch in Länder, wo ich sicher sein kann, dass es auch ein Social-Score-System gibt?
Gigerenzer: Die Dystopie ist: Die Chinesen machen das, und es wird ein Erfolgsmodell. Sie werden vorbildliche Menschen, viel besser als der durchschnittliche Deutsche, und alles funktioniert besser. Zweite Phase: Viele Länder kaufen das Programm und stellen fest, dass man aus einer autokratischen Struktur ein effizientes System machen kann, weil die meisten Menschen freiwillig beim Punktesammeln mitmachen. Dritte Phase: In Ländern wie bei uns stellt man fest, dass die anderen schneller entscheiden und umsetzen. Verkehrsregeln werden beachtet. Kriminalität geht runter. Und die Leute kriegen auch noch einen Bonus, während man bei uns, wenn man sich konform verhält und seine Steuern bezahlt, denkt: „Wir sind die Blöden.“ Und dann ist die Frage, ob die langsame Demokratie und auch das relative geringe politische Interesse an persönlicher Freiheit, das wir inzwischen haben, ob das nicht ausläuft. Und dann haben wir eine weltweite Gesellschaft, nicht bedrohlich wie 1984 oder Schöne neue Welt, weil nicht jeder zittert, sondern weil wir das ja wollen.
Netzentdecker: Wird Mitteleuropa zu einer Art gallischem Dorf der letzten Demokraten?
Gigerenzer: Es gibt gute Chancen, dass die Deutschen mit zu den Letzten gehören, weil wir ein gesundes Maß an Misstrauen gegenüber Überwachung haben.
Netzentdecker: Welche drei Handlungsanweisungen würden Sie unserer Regierung geben?
Gigerenzer: Zunächst müssen wir uns die Frage stellen, wie ernst wir die Demokratie meinen. Zweitens sollten wir die Digitalisierung der Schulen nicht allein technisch betrachten. Drittens würde ich die Wissenschaft vor der totalen Kommerzialisierung schützen, vor allem in der Medizin. Die Fortbildung der Ärzte liegt vor allem in der Hand der Pharmaindustrie. Das führt zu Anreizen für Ärzte, die nicht im Sinne der Patienten sind.
Netzentdecker: Wir alle kennen das Versprechen: Software kann Röntgenbilder sehr viel präziser interpretieren als ein Mediziner. Sehen Sie da keine historischen Fortschritte?
Gigerenzer: Im Moment gibt es ein paar Untersuchungen, die zeigen, dass es Software gibt, zum Beispiel bei der Hautkrebserkennung, die so gut sind wie ein geschulter Mediziner.
Netzentdecker: Nicht besser?
Gigerenzer: Nein. Es gibt viele Versprechungen, aber wenig Erfolge. „Google Flu“ ist gescheitert.
Netzentdecker: Der Versuch, Grippeepidemien aus Daten vorherzusagen, aus Posts oder anhand von Online-Bestellungen für Grippemittel.
Gigerenzer: 2009 wurde in „Nature“ publiziert, dass man mit „Google Flu Trends“ die grippebezogenen Arztbesuche schneller vorhersagen kann. Der Bestseller Big Data von Viktor Mayer-Schönberger nimmt das als die große Erfolgsgeschichte. Das war ungefähr 2013. Zu diesem Zeitpunkt war „Google Flu“ bereits am Abstürzen. „Google Flu Trends“ wurde dann eingestellt.
Netzentdecker: Weil sich das Ausbreiten der Grippe nicht vorhersagen lässt?
Gigerenzer: Weil das Herangehen falsch ist. Statt 50 Millionen Suchbegriffe zu analysieren, hilft eine ganz einfache Regel, um die grippebezogenen Arztbesuche besser vorherzusagen. Und die hat nur drei Variablen. Nämlich: Sie nehmen die grippebezogenen Arztbesuche vor drei Wochen und die vor zwei Wochen. Von der letzten Woche gibt es noch keine Daten, da nehmen Sie die vom letzten Jahr.
Netzentdecker: Das reicht?
Gigerenzer: Ja, das reicht. Ich nenne das „simple heuristics, that make us smart“. In vielen Bereichen in der Vorhersage sind ganz einfache Methoden genauso gut und oft besser als diese komplizierten Big-Data-Lösungen. Beim COMPAS-Algorithmus ist es das gleiche. Kennen Sie COMPAS?
Netzentdecker: Nein.
Gigerenzer: Wenn Sie in den USA angeklagt sind, dann kann es gut sein, dass Sie einem Algorithmus namens COMPAS begegnen. Der sagt vorher, mit welcher Wahrscheinlichkeit Sie in den nächsten zwei Jahren wieder eine Straftat begehen. In den USA wurden bis jetzt über eine Million Angeklagte danach bewertet. Wir wissen nicht, wie oft das eingegangen ist ins Urteil, aber viele Richter nutzen diese Zahlen. Aber niemand hat gefragt, wie gut das ist. COMPAS nimmt 137 Variablen. Je mehr desto besser. Man hat später festgestellt, dass man mit nur zwei Variablen genauso treffsicher ist.
Netzentdecker: Welche?
Gigerenzer: Die vergangenen Straftaten der Person und das Alter. Je jünger, desto unzuverlässiger.
Netzentdecker: Sind wir manchmal besoffen von den vermeintlichen digitalen Möglichkeiten?
Gigerenzer: Wir fragen jedenfalls zu wenig: Wie gut sind diese Big-Data-Vorhersagen? Nehmen Sie nur Watson, dieser IBM-Computer, der beim Ratespiel „Jeopardy“ gewonnen hat. Daraufhin haben die Chefs von IBM gesagt: Unser nächstes Ziel ist die Gesundheit. Warum? Nicht weil Watson was kann, sondern weil da viel Geld wartet. Das ist meine Interpretation. Eine der angesehensten Krebskliniken in den USA hat vor ungefähr fünf Jahren mit Watson zusammen ein großes Programm angekündigt mit personalisierten Diagnosen, personalisierten Therapien, großen Versprechen. Nachdem über 60 Millionen Dollar ausgegeben waren, hat man festgestellt, dass diese Versprechungen alle nicht der Wirklichkeit entsprechen und hat Watson gekündigt. Das ist nicht groß durch die Presse gegangen.
Netzentdecker: Wird die Euphorie ein wenig gebremst?
Gigerenzer: Leider nicht. Denn die meisten Mediziner wissen das nicht. Die glauben wirklich, dass Watson Wunderdinge kann. Den Banken wird auch gerade Watson angeboten, aber der typische Zustand in Deutschland ist: Jeder hat von Digitalisierung gehört, niemand weiß Bescheid.
Netzentdecker: Würden Sie mir raten, mein altes Handy zu behalten, das nur Telefonieren und SMS kann?
Gigerenzer: Auf jeden Fall.
Netzentdecker: Der Kanzleramtsminister hat zu einem neuen Modell geraten. Wem glaube ich denn jetzt?
Gigerenzer: Je weniger Sie selbst denken oder suchen oder herausfinden müssen, desto höher ist die Chance, dass Ihr Gehirn rostet. Wenn Sie Ihre Routinestrecken auch mit Navi fahren, dann werden Sie Ihren Orientierungssinn verlieren. Völlig unnötigerweise.
Prof. Gerd Gigerenzer, 71, ist Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er lebte in Konstanz, Salzburg, Chicago und ist Experte für rationale Entscheidungen. Sein Bestseller Bauchentscheidungen wurde in 17 Sprachen übersetzt. Als Mitglied im Sachverständigenrat für Verbraucherfragen berät er die Bundesregierung, zuletzt zum Sinn von datenbasierten Bonus-Modellen in der Kfz- oder Krankenversicherung.
Wird in dieser Kolumne weiter besprochen:
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