Sollten unsere Daten nicht helfen, Epidemien vorherzusagen? Bei Corona haben die digitalen Wunderknaben krachend versagt. Digitale Techniken halfen gerade in China eher beim Verbreiten der Seuche.

 

Vor etwa fünfzig Jahren verkündete mein Vater euphorisch, er habe die Zukunft gesehen: Strom ohne Qualm, fast kostenlos und unbegrenzt. Ein Betriebsausflug hatte ihn ins Atomkraftwerk Lingen geführt. Eine Generation später bejubelte ein weiterer Vater am Abendbrottisch das europäische Projekt „ITER“. Diese Testapparatur werde schon bald sauberen und fast kostenlosen Strom aus der Kernfusion spendieren. Der Vater war ich. Meine Söhne staunten.

Vor wenigen Jahren verkündeten unsere Söhne das Ende der Krankheiten. Aus unseren vielen Daten könne die Software die Verbreitungswege von Seuchen herauslesen. Zudem werde Künstliche Intelligenz alsbald jeden Impfstoff in wenigen Tagen entwickeln. Wirklich?

Corona ist ein Stresstest für die digitalen Heilsverkünder. Soll unser Smartphone nicht anhand unserer Bewegungen Parkinson im Frühstadium erkennen oder einen Schwips oder erhöhte Temperatur? Ich würde mir Warnhinweise auf Google Maps wünschen, welche Gegenden ich besser meide, weil die Wahrscheinlichkeit einer Infektion dort hoch liegt. Bei Staus klappt das doch auch.

Bis die Wundertechnik Leben rettet, waschen wir uns sehr analog die Hände, stehen im Konservenfachgeschäft an und bunkern Klopapier. Da hilft keine App, sondern Ausdauer. Im Internet kursiert derweil vorwiegend Unsinn, Corona-Pornos zum Beispiel oder Fake-Mails von der WHO oder die Einladung, uns den nächsten noch aufgeregteren Corona-Beitrag anzuschauen, um die letzten Cent Werbegeld rauszuquetschen. Die Digitalkonzerne sind eben keine Wohltäter, sondern am Ende Reklamebuden mit angeschlossenem Datenhandel. Gesellschaftlicher Mehrwert jenseits des Börsenkurses? Klappt ja nicht mal beim Steuerzahlen.

Was Corona angeht, diente das Digitale eher dem Ausbreiten des Virus. So setzte die chinesische „Digtatur“ in ihrem Kontrollwahn Technik vor allem ein, um die ersten Corona-Anzeichen zu unterdrücken und Wissenschaftler mundtot zu machen, die das Virus im Dezember entdeckt hatten. Damals hätte man die Seuche eindämmen können. So half die Überwachungstechnik eher bei der weltweiten Verbreitung.

Professor Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, warnt vor übermäßigen Erwartungen. Auffälligster Effekt der digitalen Technik sei umfassende und nicht immer erkennbare Reklame der Pharmakonzerne im Netz, die der normale Verbraucher kaum wahrnimmt.

Die Heilsversprechen der Digitalkonzerne seien dagegen kaum eingelöst. Gigerenzer, auch Sachverständiger der Bundesregierung für Verbraucherfragen, weiß von „ein paar Untersuchungen, die zeigen, dass es Software gibt, zum Beispiel bei der Hautkrebserkennung, die so gut sind wie ein geschulter Mediziner“. Mehr nicht. Auch die angebliche Krebsprognosefähigkeit des IBM-Superrechners Watson erwies sich als FakeNews. Einst gefeierte Programme sind längst wieder eingestellt.

Der größte Flop aber sei das Projekt „Google Flu“ gewesen, der Versuch, Epidemien aus Daten vorherzusagen, aus Posts oder anhand von Online-Bestellungen. Vor gut zehn Jahren wurde noch begeistert publiziert, dass grippebezogenen Arztbesuche vorhergesagt werden könnten. Fünf Jahre später war das Experiment kleinlaut beendet. Während viele Mediziner, so Gigerenzer, bis heute glauben, dass Künstliche Intelligenz Wunderdinge vollbringen kann, vertraut der Professor lieber dem Prinzip der simplen Heuristik, auch als „Erfahrung“ bekannt. Statt Milliarden von Suchbegriffen zu analysieren, helfe eine sehr einfache Regel, um Grippewellen vorherzusagen. Und die hat drei Variablen: Die grippebezogenen Arztbesuche vor drei Wochen, die vor zwei Wochen und die der letzten Woche, Daten, die sich in jeder Hausarztpraxis erheben lassen. Laut Gigerenzer sind zur Prognose „einfache Methoden genauso gut und oft besser geeignet als komplizierte Big-Data-Lösungen.“