Das Internet schafft eine globale Protestkultur der Jugend. Darüber könnten wir Älteren höhnisch lachen; und einen Fehler wiederholen, den unsere Eltern 1968 gemacht haben.

 

Neulich telefonierte ich mit einem alten Kumpel, der in Spanien wohnt. Er erzählte von seiner Tochter, gerade 16, die sich weigere, neue Klamotten zu kaufen. Sie besäße zwei Hosen, berichtete er, und auch sonst sei das Mädchen erschreckend anspruchslos. Dafür sei sie unlängst gegen Rassismus auf die Straße gegangen, verehre Greta Thunberg und sage oft Okay, Boomer! zu ihren Eltern. Dieses Verhalten kommt mir bekannt vor. Die jungen Menschen heutzutage sind offenbar nicht mehr in unsere alten Kategorien zu pressen: Nation, Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft haben für unsere Kinder weit weniger Bedeutung als für uns. Mit Hilfe digitaler Systeme wächst derzeit offenbar die erste globale Jugend heran, die Länder-, Sprach- und Kulturgrenzen für Konstrukte ihrer Vorfahren hält. Ob Black Lives Matter oder Fridays for Future, Gender-Themen oder Hyperkonsum – Proteste junger Leute sind nicht auf Regionen zu begrenzen. International, von Moria bis Halle, von Minneapolis bis Hanau wird gegen das elterliche Konzept der Grenzen oder Polaritäten demonstriert: Wirtschaft gegen Klima, Mann gegen Frau, Weiße gegen den Rest, Mensch gegen Natur – diese Gegensätze werden infrage gestellt.

Vor 50 Jahren bezeichnete die Mehrheitsgesellschaft die Hippies als „langhaarige Gammler“, obgleich sie mit Pazifismus und radikaler Liebe wichtige Punkte machten. Die digitalen Hippies von heute sind durchs weltweite Netz zum besorgten Nachwuchs aller Länder vereint. Der Mord an George Floyd wurde mit digitaler Technik gefilmt und weltweit verbreitet. Die Proteste gegen Rassismus schwappten in den Rest der Welt. Eine Schülerin aus Schweden ist mit Hilfe von Instagram zur Weltikone des Klimaschutzes geworden. Die jungen Leute kritisieren nicht nur Trump und Tönnies, sondern auch uns, die eigenen Eltern, die immer dachten, dass sie die ewige Jugend für sich gepachtet haben, weil sie artig Müll trennten und ein Smartphone zu bedienen wissen, jedenfalls einige Funktionen.

Wer wie ich in den Wirtschaftswunderjahren aufgewachsen ist, für den war eigenes Geld wichtig, um unabhängig zu sein, ein anderes Wort für freien Konsum. Zu den Widersprüchen unserer Generation gehört, dass wir mit den Grünen groß geworden sind, ohne den Umweltschutz allzu ernst zu nehmen. Als die Öko-Partei gegründet wurde, erwarb ich mein erstes Mofa, am Tag meines 18. Geburtstags wollte ich keine Netzkarte für den ÖPNV, sondern meinen Führerschein, um mit dem eigenen Auto in Urlaub fahren, möglichst weit. Immerhin tankten wir später bleifrei und trugen die Einwegflaschen in ökologisch korrekten Jutebeuteln zum Container. Umweltschutz war okay, solange er unsere Gewohnheiten nicht allzu sehr einschränkte. „Boomer“, das sind Menschen wie ich, die glaubten, Ökologie, Menschenrechte und globale Gerechtigkeit mit ein paar Spenden und Produkten aus der Region verwirklichen zu können. Rezo und Greta, Kevin Kühnert und die selbst ernannte „Moët-Marxistin“ Grace Blakeley zeigen uns, dass wir mit unseren Lebenslügen nicht viel bewirkt haben: Klimawandel, Ausbeutung, Rassismus – was genau ist besser geworden, seit wir Boomer das Sagen haben?

Wir haben die Finanzkrise über uns ergehen lassen, ertragen Artensterben, NSU-Morde und schlabbriges Grillfleisch und überlegen, ob sich mit der Wirecard-Aktie ein schneller Euro machen lässt – wirklich wertegetrieben und nachwuchsfreundlich waren wir nicht. Stets haben wir uns um die Grundsatzfrage gedrückt, die die jungen Menschen derzeit weltweit stellen: Was ist eigentlich mit diesem Kapitalismus? Ist unser System alternativlos, zukunftsfest, das Optimum?

Unsere Kinder stellen die geradezu gotteslästerliche Frage, ob globales Zusammenleben mit einem auf immer mehr Verbrauch angelegten ökonomischen System vereinbar ist. Dass Nordkorea keine Alternative ist, wird ihnen als Antwort nicht genügen.

 

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