Lebenslanges Lernen – ist das eher Chance oder Drohung? Hajo bildet sich tapfer weiter fort, als Kamerakraft.

 

Ich habe ja keine Vorurteile. Aber Menschen mit Selfie-Stick haben die Kontrolle über ihr Leben verloren. Es ist nicht nur albern, sondern bisweilen tödlich, wenn man in der Linken einen Teleskopstab mit eingespanntem Handy hält, in der Rechten die aktuelle Tinder-Bekanntschaft und sich dann fotografiert, vor Eiffelturm oder auf Staumauer. 259 Menschen sollen weltweit zwischen 2011 und 2017 gestorben sein, weil sie aufregende Bilder von sich schießen wollten: mit wilden Stieren, balancierend, sehr dicht an Schnellzuggleisen oder mit geladenen Waffen. In Indien allein kamen 150 Menschen ums Leben beim Versuch, mit dem Rücken zum Risiko ein Selbstporträt anzufertigen. In Deutschland ist nur ein Fall bekannt, der einer Touristin, die in Sri Lanka an einer Felskante knipste. Die Opfer waren im Schnitt 23 Jahre alt, überwiegend männlich und neigten vermutlich zum Narzissmus, wie eine Studie der Ohio State University ergab.

Tja, und nun gehe ich selbst mit Stock. Nein, kein lumpiges Regenschirmgestänge, sondern ein Hightech-Gerät namens Gimbal, das mal wieder Zukunft verspricht, aber am Ende mache eben doch ich Bilder von mir. So sei die Zukunft, hat Christian Ruhnau gesagt. Der Gimbal ist via App und Bluetooth mit meinem Smartphone verbunden, das mich eingespannt anschaut. Der wuchtige Stab balanciert mein altersbedingtes Zittern mit einer ausgeklügelten Wiegetechnik aus. Mit dem rechten Daumen kann ich mich filmen. Aber der Arm ist nicht zu sehen; nur Profis erkennen, dass hier ein Narziss am Werk ist. „Gar nicht schlecht“, sagt Christian Ruhnau gnädig, als er meine ersten Wackelbilder betrachtet, den ungelenken Versuch, gleichzeitig zu filmen, zu gehen, zu reden und relevant zu gucken.

Ruhnau, 38, hat als Videoproducer der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung deutlich bessere Zukunftschancen als Boomer wie ich, deren technische Fähigkeiten sich im Bedienen einer Tastatur erschöpfen. Also wieder Neues lernen. Weil die Kulturtechnik des Lesens vermutlich das Nischenschicksal der Vinylschallplatte erleiden wird, sollten wir Journalisten künftig mehr als Texte bieten, Filmchen zum Beispiel, die viel lieber konsumiert werden als Aufsätze.

Einst war Kameramann ein Lehrberuf. Heute drehen alle, nicht perfekt, aber, na ja, Zeug halt. Die Digitalisierung hat eine historische Rückwärtsentwicklung eingeleitet. Kerngedanke des wirtschaftlichen Fortschritts war die geteilte Arbeit: Einer schraubte, einer schweißte, einer lackierte. Spezialisten mit eigener Ausbildung sorgten für Tempo und Qualität, sogar bei den Medien. Vor zwanzig Jahren wären wir zu dritt zur Fridays-For-Future-Demo gegangen: Kamerafrau, Tonmann, Reporterin, und danach der Cutter im Schneideraum. Heute hat eine Fachkraft alles zu können, so wie Christian Ruhnau. Für eine Reportage über Demo oder Massenkarambolage in der Nachbarschaft zählen nicht Hollywood-Qualität, sondern hohes Tempo und niedrige Kosten. Nun ließe sich auf die Baumarktlüge hinweisen, dass keiner alles perfekt hinbekommt, nicht mal mit YouTube-Anleitung. Wie kluge Fragen stellen, wenn man aufpassen muss, nicht in einen Hundehaufen zu treten, während gleichzeitig der Bildausschnitt zu justieren und via Kopfhörer der Ton zu prüfen ist? Okay, Boomer, das kann man beklagen. Hilft aber nichts. Die brutale Frage in nahezu allen Branchen lautet: Mit der neuen Welt klarkommen oder den Beruf wechseln?

„Üben, Üben, Üben!“, hat mir Ausbilder Christian mit auf den Weg gegeben. Nun schleiche ich also durch die Wohnung und führe Interviews mit der Familie. Die gute Nachricht: Das Bild wird besser. Dafür rumpelt der Ton. Mein linker Arm gewöhnt sich langsam an das dauernde Ausgestrecktsein. Neulich bin ich beim Rückwärtslaufen im Flur über ein paar Schuhe gestolpert, aber nicht gestürzt. Versprochen, ich werde mich nie wieder über Selfie-Opfer lustig machen.