Wer auf sich hält, spricht von „Industrie 4.0“. Nur: Was ist das? Wie geht das? Was nützt das? Unser Kolumnist hat sich das mühsame Digitalisieren in einer Stahlschneiderei angeschaut.

 

Was haben Frank Sinatra, Horst Seehofer und Winston Churchill gemeinsam? Richtig, eine Vorliebe für Miniatureisenbahnen mit Bahnhöfen, Hafenanlagen und Kränen. In einem unspektakulären Gewerbegebiet in Oberhausen hätten die großen Männer eine tolle Spielfläche gefunden. Auf drei Quadratmetern surrt da eine Verladeanlage im Miniaturformat, gesteuert von Servern und Sensoren, niedlich anzuschauen, aber eine ernste Sache. „Die Zukunft der deutschen Industrie“, sagt Axel Berger, 44, oberster Transformationsbeauftragter bei thyssenkrupp. Was im Modell funktioniert, soll Ingenieur Berger mit seinen Kollegen auf hochkomplexe Industrieanlagen übertragen. Digitalisierung halt. Immer wenn sein Chef, der jeweilige CEO der thyssenkrupp AG, einen Trendbegriff  wie „Industrie 4.0“. fallen lässt, zuckt Berger. Industrie 4.0 ist wie Globalisierung – alle reden drüber, jeder versteht was anderes. Im Kern geht es um die immer gleiche Aufgabe: schneller, billiger, besser produzieren. Berger arbeitet mit seiner kleinen Digitalisierungstruppe an der Schnittstelle zwischen analoger Metallverarbeitung und digitalem Wunschdenken, immer befasst mit der Frage: Wo lohnt sich im globalen Preiskampf die digitale Aufrüstung, wann ist das Bauchgefühl eines Maschinenführers der künstlichen Intelligenz überlegen? Wo also lohnt sich digitale Fummelarbeit?

Eine Stunde zuvor blicken Berger und sein Kollege Michael Panzer, 36, in einer Wellblechhalle bei Krefeld auf ein Gewirr aus Maschinen und brüllen gegen den stampfenden Lärm an: „Früher hieß das mal Automatisierung, was wir machen.“ Als Head of Transformation und Head of Operational Excellence tragen beide Männer wohlklingende englische Titel. Gleichwohl geht es hier in Krefeld um die seit Kaisers Zeiten gleiche Frage: Wie lassen sich Bleche, die in großen Rollen aus dem Stahlwerk angeliefert werden, möglichst schnell, präzise und ohne viel Abfall zum Kunden schaffen, ganz gleich, ob als Kotflügel oder als Beschlag fürs Kellerregal. Hier in Krefeld schlägt eines der vielen analogen Herzen der deutschen Wirtschaft. Gewaltige Rollen mit bis zu vier Kilometern Blech werden ganz ohne Internet zerschnitten, mal schnürsenkelschmal, mal türbreit, auf den hundertstel Millimeter genau, bis zu 300 Meter in der Minute, bis zu 1.500 Tonnen am Tag. Die älteste Maschine rattert, seit Konrad Adenauer Kanzler war. „Und das ist unsere Aufgabe“, erklärt Berger: Maschinen aus fünf Jahrzehnten Industriegeschichte zum Kommunizieren bringen, möglichst ohne den laufenden Betrieb zu stören. Das ist ungefähr so, als wolle man Opas Grammophon, einen Walkman, CD-Player, Plattenspieler, einen Kinderchor, Boom-Boxen und DJ-Mischpult im laufenden Konzert zu einer kabellos funktionierenden Musikanlage zusammenbauen, die sich mit einem Smartphone steuern lässt.

Statt der Illusion von großen Lösungen hinterherzurennen, freuen sich Berger und Panzer, wenn sie einen digitalen Weg finden, die tonnenschweren Blechrollen so schlau zu stapeln, dass die Wege möglichst kurz sind, wenn die Messer einen Tick präziser stehen als von Hand eingerichtet, wenn die Mitarbeiter am Schichtende genau sehen, wo warum welche Maschine zickte oder wenn die 120 verschiedenen Verpackungsarten möglichst fix umgesetzt werden. Ja, digitale Technik kann helfen, weil die Rechner, wie beim Schach, ein paar Züge weiter im Voraus denken. Zugleich dauert jede Programmierung Wochen, denn fertige Lösungen gibt es nicht. „Alles Maßarbeit“, sagt Berger. Klar, Industrie 4.0 ist möglich. Aber sie dauert. Und wird ganz traditionell zwei Sorten Menschen brauchen: die einen, die Produkte herstellen. Und die anderen, die sie kaufen.