Früher hatte ein Urlaub genau 36 Bilder, heute sind es unzählige. Hajo verzweifelt an der Unmöglichkeit, Ordnung in digitalen Alben zu halten.

 

Früher, als das Leben übersichtlich war, bestand ein Sommerurlaub aus exakt 36 Bildern und einem Album, egal, wie langweilig das Regenwandern im Schwarzwald war. Im Fotofachgeschäft wurde zuvor ein Film erworben, nicht Kodak von den Amis, sondern deutsche Ware – Agfa. Aus der Blechrolle hing ein schwarzer Zipfel, Anfang eines lichtempfindlichen Streifens, der in die aufgeklappte Kamera der Marken „Voigtländer“ oder „Praktica“ einzufriemeln war. Der Streifen bot Platz für exakt drei Dutzend Negative. Jedes Bild wollte überlegt sein. Schon wieder Mutti am Strand? Oder Kind mit Kuh? Essen auf der Wiese ließ sich knipsen, Essen auf dem Teller nicht. Zu nah dran. Zoom war noch nicht erfunden. Selfies machte man mit Selbstauslöser, was sprinterische Qualitäten erforderte.

Nach dem Urlaub brachte man den Film in ein Fachgeschäft, kam eine Woche später unter Vorlage des Abholzettels vergebens: „Leider noch nicht fertig“. Beim nächsten Mal hatte man den Abholzettel verloren und wühlte sich durch hunderte Fototüten des Namensfachs „SCH“. Dann, endlich, Tüte aufreißen. Bilder im Format 9×13 cm, so groß wie ein Smartphone-Display, verwaschene Silhouetten, über- oder unterbelichtet, immer mit zu viel Gegend.

Aber Fotos sind wie Wein: Die Güte ist nachrangig. Ein Glas minderer Qualität mit guten Leuten kann großartige Erinnerungen erzeugen, Unmengen der tollsten, teuersten Tropfen Überdruss.

An einem Herbstabend schließlich klebte Mutti die Bilder in ein Album mit Strukturtapeteneinband, dazu Eintrittskarten, vierblättrige Kleeblätter und Stadtpläne. Wenn man nichts mit Nachbarn oder Verwandtschaft zu reden wusste, kamen die Fotoalben auf den Tisch. So war im Wohnzimmerschrank jedes Jahr in einem magischem 36+1-Album gefasst, Höhepunkte des abgelaufenen Lebens.

Eines Tages riss die Tradition. Keine Filme mehr, keine Alben. Stattdessen unbegrenzter Speicherplatz, viele bunte Formate und Systeme. Seit jedes Handy knipsen kann, ist das Fotografieren demokratisiert; 36 Bilder sind Tages-, nicht Jahresproduktion. Keine Auswahl. Kein Papier. Nur noch Wischware. Irgendwo am Polarkreis muss ein gewaltiger Server stehen, auf dem alle unsinnigen Bilder der Welt gespeichert sind, die in Alben gerechnet eine Autobahn bis zur Galaxie GN-z11 pflastern würden. Das Foto ist von der kostbaren Lebenserinnerung für Generationen zu einem rasch zu schönenden Moment geworden. Praktisch, aber auch lästig. Denn viele Bilder brauchen viel Verwaltungszeit, ob Betrachten, Bearbeiten, Löschen, Ablegen. Jetzt mal ehrlich: Wer guckt abends rasch noch mal alle Fotos des Tages durch und sortiert? Ich nicht.

Noch tückischer wird die Bilderflut, wenn ein Nutzer von Google-Drive, ein iPad-Pilot und ein eher betagtes Smartphone in die Ferien fahren, drei Menschen also, die zugleich über WhatsApp, Instagram, Facebook oder gar nicht digital kommunizieren. Überall Bilder, aber nie zusammen an einem Ort. Früher hatten wir Ordner auf einer Festplatte angelegt, die „Hunde 2014“ hießen oder „Blumen Chefin“. Dann kam der Rechner zu Schaden, was aber egal war, da sich niemand jemals wieder „Hunde 2014“angeschaut hätte, trotz der vielen Filter.

Bilanz nach einem guten Jahrzehnt Digitalbild: das totale Durcheinander. Bis heute haben wir so viele Bilder wie nie zuvor angesammelt. Aber wo genau stecken sie, zwischen Clouds, rotten Laptops, alten Festplatten und all den Smartphones?

Höchste Zeit, die alten Rituale wiederzubeleben. Eines trüben Herbstabends werde ich alle digitalen Bilder des Jahres sammeln. Dann solange löschen bis genau 36 Motive aus den letzten zwölf Monaten übrig bleiben. Wie früher, kommen diese drei Dutzend in ein digitales Album. Mehr Bilder braucht kein Mensch.