Was Eltern einfach nur schockierend finden, kommt bei unseren Kindern viel differenzierter an. Der Attentäter von Christchurch inszenierte den Massenmord wie ein Computerspiel.

 

 

Behutsam schob ich beim Abendbrot die Zeitung in Richtung des Spiegelei-Tellers, über den sich unser Sohn beugte. „Hast Du mitgekriegt, was in Neuseeland passiert ist?“, fragte ich. „Ja, so`n Verrückter“, antwortete das Kind, „sah aus wie Call of Duty.“ Wie was? „Ein Game“, erklärte der Dreizehnjährige. Woher er denn wisse, wie das Attentat ausgesehen habe, fragte ich. Das Video habe in einer seiner WhatsApp-Gruppen kursiert, erklärte der Junge, er habe es kurz angeschaut, so wie die meisten seiner Kumpel, das Machwerk dann aber gelöscht.

Bemerkenswert, wie verschieden die Altersklassen den Terror wahrnehmen. Ich bin mit den Attentaten der RAF aufgewachsen – gezieltes Morden von mächtigen Männern ohne größere Inszenierung. Das Video von Christchurch wollte ich nicht sehen. Dieses Attentat schließt zwar ideologisch an rassistisch motivierte Terrorakte wie in Oklahoma, Norwegen oder Charlotteville an, bedient sich aber, und das ist neu, an Elementen aus Computerspielen, digitalen Codes und mythologischem Kram, den wir Eltern kaum entschlüsseln können. Was mir wie kranker Irrsinn vorkommt, passt in die Kultur unserer Kinder, vor allem Söhne, die sich in dieser Hybrid-Welt zwischen Fake und Fakt, Prank und Ernst, brutaler Ironie, absichtsvoller Verwirrung und eiskalter Brutalität bewegen.

Dass 200 Menschen dem Massaker in Christchurch live, aber tatenlos zugeschaut haben, illustriert den Realitätsverlust in Teilen der digitalen Welt. Und dass Facebook die Übertragung nicht entdeckte und stoppte, belegt die Grenzen künstlicher wie menschlicher Intelligenz. Weit ist die Grauzone zwischen Ernst und Entertainment, wo etwa Call of Duty operiert, ein Kriegsspiel, bei dem Männer sich den Weg freischießen.

Helmkamera und Gewehr kennen viele Jungs und Mädchen zudem vom Kindergeburtstag in der Laser-Tag-Halle, aus dem Fernsehen von der Jagd auf Osama bin Laden, aus kruden Comedy-Videos oder eben populären Spielen. Wer nicht selbst spielt (oder spielen darf), schaut anderen beim Zocken zu; dieses „Let´s Play“ ist unter unseren Söhnen jenseits des Grundschulalters ähnlich populär wie Fußball. E-Sport ist ein weltweites Milliardengeschäft, das Bundesliga-Klubs wie Schalke, RB Leipzig oder Hertha BSC für sich entdeckt haben. Die Wettkämpfe sind schneller ausverkauft als Stones-Konzerte, die Preisgelder reichen in die Millionen. Call of Duty gehört seit Jahren zu den erfolgreichsten Egoshootern der Welt. Experten loben die authentische Atmosphäre; die Schussgeräusche wurden teilweise mit Originalwaffen aus dem Zweiten Weltkrieg erzeugt.

Warum kopieren Terroristen die Ästhetik der Computerspiele? Womöglich, um in einer zunehmend aggressiven, intoleranten, zynischen Gamer-Szene Nachahmer zu rekrutieren, wie der Netzweise Sascha Lobo vermutet. Was aber, wenn „Isolation“ hinzu kommt, ein Gefühl, das auf der Tech-Messe SXSW soeben als drängendstes Problem der digitalen Welt identifiziert wurde? Einsamkeit scheint trotz Likes und Friends um sich zu greifen und labile Charaktere womöglich in Depression oder den Wahn vom einsamen Rächer zu treiben. Der Mörder von Christchurch wähnte sich als Erbe der Kreuzritter und auf dem Weg nach Walhalla, dem mystisch geladenen Sehnsuchtsort bei Nordmännern, Wagner, Mad Max und natürlich Computerspielen wie Tomb Raider.

Der Massenmord von Neuseeland zeigt, dass die digitale Welt eine digitale Form des Terrorismus hervorbringt, mit Tätern, die sich im globalen Wettkampf um Opferzahlen und Aufmerksamkeit sehen, die Verschwörungstheorien teilen, den angeblich nahen Weltuntergang fürchten und Rache nehmen wollen, wofür auch immer, worin sie islamistischen Attentätern übrigens beängstigend ähnlich sind.

Es wäre leichtfertig, aus Trauer über den Massenmord mit Routine-Vokabeln wie „unbegreiflich“ zu hantieren. Das Gegenteil stimmt: Motive und Muster sind klar zu erkennen; was fehlt, ist eine Strategie, ihnen zu begegnen.