Das Leben als Schlacht, jede Minute ein Kampf um die Rettung der Welt. Die digital befeuerte Dramatisierung des Alltags wirbelt Realität und Märchen wüst durcheinander. So verstetigt sich ein Gefühl andauernder Panik.

 

Früher, als die Welt noch übersichtlich war, hatten Märchen ihren festen Platz auf Ariola-Schallplatten und klangen nach Hans Paetsch. Zu Weihnachten gab‘s Aschenbrödels Nüsse, ansonsten die Ausburger Puppenkiste. Wir Kinder wussten, kluge Prinzessinnen, wunderschöne Hexen und tumbe Prinzen als das einzuordnen, was sie waren: Unterhaltungsgeschichten mit schlichtem Gut/Böse-Kompass und einer Extraportion Drama. Märchen reicherten den unspektakulären Alltag mit Emotionen an.

Mit der Digitalisierung haben sich Märchen in unser aller Leben geschlichen, rund um die Uhr. Der unentwegte Kampf um Aufmerksamkeit sorgt dafür, dass jede Sekunde des Alltags dramatisiert wird. Aufstehen, Anziehen, Frühstück, Weg zur Arbeit – überall Gefahren. Jede Haferflocke braucht eine Story, jeder Werbespot ein Drama, jede Nachricht einen Twist. Das ganze langweilige Leben fühlt sich an wie ein steter Kampf um das Schicksal des Planeten. YouTube-Influencer sind in epische Konsumschlachten verstrickt, Gangster-Rapper erklären unserem Nachwuchs, dass das Leben in Deutschland unerträglich sei, Mitbürger wähnen sich in einer Diktatur. Trump und Biden intonieren ihre Wahlkampfreden als finale Schlacht von Licht und Schatten, so als handele es sich beim US-Wahlkampf um eine Fortsetzung von Star Wars. Unsere Kinder wurden von Harry Potter und Frodo Beutlin auf ihre Lebensaufgabe als Weltenretter vorbereitet und üben bei Fortnite täglich Häuserkampf. Netflix hat Realität und Fiktion derart durcheinandergewürfelt, dass wir uns fragen, ob dieser eine Satz gestern beim echten Scheidungsanwalt gefallen ist oder in einer Serie.

Verbissener als Viren bekämpfen wir die Langeweile, die wahre Pandemie unserer Zeit, bevorzugt mit dem Evergreen vom Weltuntergang. Eingebildeter Widerstand, Krokodile in Badeseen, echte Revolutionen, Minsk und Minden gehen wüst und wirr durcheinander und sorgen bei dauerregten Bürgern für Chaos-Angst. Was haben wütende Anhänger eines veganen Kochs und die Randalierer in Leipzig-Connewitz gemeinsam? Das emotionale Abkoppeln von einer in Wirklichkeit relativ berechenbaren Welt, was zu fortschreitendem Realitätsverlust im Endkampf gegen eingebildete Unterdrücker führt. In einer Studie für die Konrad-Adenauer-Stiftung gaben 30 Prozent der Befragten kurz vor der Corona-Krise an, dass die Welt von einer „geheimen Macht“ gesteuert werde. Unklar ist, inwieweit das Virus und seine Begleiterzählungen diese Zahl verändert haben.

Die Lust am Drama verscheucht das Naheliegende, das Normale, den Alltag und damit die Entspanntheit. „Lieber tot als ein Leben in Angst“ – so stand es auf einem Schildchen, das ein Seniorenpaar auf einer Demonstration gegen die Corona-Politik hochhielt. Angst ist eine verlässliche Entertainerin, macht aber leider auch verrückt, wenn Realität und Fiktion durcheinandergehen.

Lässt sich Angst einfach abstellen? Leider nicht. Die Tatsache, dass von allen prophezeiten Weltuntergängen bislang keiner eingetreten ist, mag auf einer rationalen Ebene beruhigen, emotional aber das Gegenteil bewirken. Die Tatsache, dass wir bislang keine finsteren Kräfte entdeckt haben, die die Welt längst beherrschen, beweist doch nur, wie gut sie sich verstecken.

Die Kunst des Märchenerzählens hat längst auch im Journalismus ihren festen Platz: „Storytelling“, also die Kunst des dramatischen Aufblasens, wird in Reporterkursen gelehrt, Kernbotschaft: Hilf der Realität ein wenig auf, mach´ den Helden einsamer, den Kampf härter, die Schicksalsschläge brutaler, den Gegner mächtiger. Wer will schon hören, dass die Pandemie sich abschwächt, die Politik auf Sicht fährt und Masken helfen. Dann doch lieber lauterbachhaft so lange wie möglich die zweite oder dritte Welle reiten. Drama geht immer, Normalität fast nie.

 

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