Der größte Fluch im Heimbüro: Dauernd lockt die Ablenkung. Da hilft nur soziale Kontrolle. Dank digitaler Technik lässt sich gemeinsam alleine arbeiten.

 

Flach atmen. Kopf runter. Am Stift kauen. Nachdenklich gucken. Ich möchte aussehen, als arbeitete ich hart. Denn ich werde beobachtet, wie ich genau diesen Text schreibe. Ich sitze daheim vor meinem Rechner, seit 20 Jahren fast jeden Tag, seit zwei Monaten noch mehr. Aber ich bin nicht allein. Drei Frauen könnten jederzeit aufblicken, würden sie nicht gerade selbst an ihren Texten doktern. Die Gefährtinnen können meinen Bildschirm zwar nicht sehen, aber es fühlt sich so an. Wir haben uns in ein Experiment gewagt, das Schriftsteller in Großbritannien erfunden haben sollen: kollektives, digitales Schreiben. Per Internet gucken wir uns gegenseitig beim Arbeiten zu. Und sonst? Sonst nichts.

Simone sitzt in Hamburg, Berit in Greifswald, Mareike in Salzburg, ich bin in Berlin. Wir haben Kinder, suchen Ruhe zum Schreiben und haben uns daher zu einer Bildschirmkonferenz verabredet. In drei dürren Sätzen haben wir erklärt, woran wir sitzen. Dann Parole Klappe halten, fertig werden. Simone Buchholz, die Krimi-Autorin, muss eine Kurzgeschichte fertigstellen, Berit Glanz sitzt an ihrem zweiten Roman, nachdem ihr Erstling Pixeltänzer gut ankam. Mareike Fallwickl versucht ebenfalls, an den Erfolg ihres Familienromans Das Licht ist hier viel heller anzuschließen. Drei junge, erfolgreiche Künstlerinnen und ich.

Kollektive digitale Stillarbeit – das klingt seltsam, aber fühlt sich gut an. Wir kämpfen mit Texten, aber eben nicht allein. Wir spendieren uns reihum wohlwollende Kontrolle, um unsere ärgste Feindin in Schach zu halten: die Ablenkung. Wer vor seinem Wörterhaufen sitzt, neigt dazu, vorher rasch noch mal in die Mails zu schauen, eine Runde zu zocken, wirklich nur eine, oder sich über den jüngsten Flachsinn aus Reihen des neuen deutschen Widerstands zu empören. Da hilft nur soziale Kontrolle, die der Hippie in mir ablehnt, während mein innerer Preuße erleichtert die Hacken zusammenknallt. Jawoll, wird gemacht. Die anderen gucken schon.

Das Konzept der sozialen Kontrolle wurde vor 125 Jahren von dem US-Soziologen Edward Alsworth Ross erfunden. Menschen sollen so gesteuert werden, dass ihr Verhalten als positiv zu bewerten ist. Schreibende, die schreiben – was gibt es Positiveres? Nur muss man erst mal dazu kommen. Denn immer gerät was dazwischen. Kaum naht eine verkorkste Textstelle, die Reparatur braucht, springt die Ablenkung ins Bild, will Kaffee holen, Wäsche aufhängen, weg vom Text. Manche arbeiten mit knallharten Zeitplänen, klemmen das WLAN ab oder legen Belohnungsschokolade aus. Das Problem am Selbst-Motivieren: Man kennt die Tricks. Sich-selbst-Kitzeln funktioniert auch nicht.

Was sind nun effektive Antreiber? Richtig: Leidensgenossen, die man als einen Hauch disziplinierter vermutet als sich selbst. Studenten kennen das Prinzip Stabi. Für die Abschlussarbeit verziehen sich viele in die Staatsbibliothek, weil die Trödelanten in der heimischen WG das soziale Egal praktizieren. In der Bibliothek sind weder Schwätzer noch Smartphones erwünscht, es herrscht die Übereinkunft von produktiver Stille. Böse Blicke schon für die, die laut mit Papier rascheln. Soziale Kontrolle funktioniert.

Wir haben digital eine Staatsbibliothek nachgebaut. Wir sehen uns und fühlen uns beobachtet. Weil die Mitstreitenden sympathisch sind, fehlt der Wille zum Widerstand. In dieser kleinen Öffentlichkeit zieht man sich etwas netter an als sonst im Homeoffice. Schlendrian hat kurz mal Urlaub.

Nach neunzig Minuten ist die experimentelle Schicht beendet. Alle haben richtig was geschafft. Wir sind begeistert, von uns selbst, von den anderen. Wir verabreden uns für die kommende Woche. Jetzt erstmal Mails checken, Kaffee holen und Unsinn bei Twitter lesen.

 

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