Warum läuft das Internet in Estland rund? Warum gibt es dort die elektronische Patientenakte und eine Steuererklärung in wenigen Minuten? Wie Deutschlands oberster Digitalisierer Helge Braun mit einem trägen Land ringt.

 

Interview mit Helge Braun

 

Wir sind ein moderner Haushalt. Alles online. Sogar der Fernseher. Dafür habe ich auf Anraten eines technisch versierten Freundes hin drei tragende Wände durchbohrt. Eigentlich hatten wir WiFi-Fernsehen erhofft, kabellos mit der Welt verbunden. Leider liegen Fernseher und Datensteckdose ungünstig weit entfernt. Also doch ein Kabel. Die Wohnung der Zukunft sollte um die Internet-Steckdose gebaut werden.

Ob ich ein Haus abreißen wolle, fragte der Berater im Baumarkt, als ich um einen vierzig Zentimeter langen Bohrer bat. W-Lan, erklärte ich. Zum Abschied empfahl er mir einen Anti-Aggressions-Trainer, der sich auf Router und W-Lan spezialisiert habe. Inzwischen läuft der Fernseher, saugt aber soviel Bits, dass der Rest vom Internet schwächelt. „Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden“, sagt die Kanzlerin. Nur unser Wohnzimmer nicht. Obgleich ich einen Highspeed-Vertrag mit dem führenden Netzanbieter bezahle, „kommt nicht genug aus der Dose“, sagt unser technikaffiner Freund, da müsse man nach Estland umziehen. Da schnurre das Netz. Wir wohnen übrigens nicht an einer Milchkanne, sondern vier Kilometer vom Dienstsitz der Kanzlerin entfernt.

Dort, im Kanzleramt, gibt es eine lustige Regel: Wer in einer Besprechung das E-Wort benutzt, muss fünf Euro ins Phrasenschwein bezahlen. Das E-Wort lautet „Estland“. Der kleine baltische Staat hat sich mit Island und Serbien zum digitalen Vorzeigeland der EU entwickelt. Helge Braun ächzt leise, wenn er das E-Wort hört. Braun ist Kanzleramtsminister und nebenbei oberster Digitalisierer Deutschlands. Merkels Mann fürs Internet verbreitet eine dalailamahafte Gelassenheit. Ihm geht es wie dem Bahnchef: Er soll in Rekordzeit richten, was seit Jahrzehnten ruckelt. Hart, aber unfair. So wie der Estland-Vergleich, findet Braun. (Hier geht´s zum Interview.)

Die Esten, vor knapp dreißig Jahren aus der verblichenen Sowjetunion entlassen, hatten es vergleichsweise leicht. Nach der Unabhängigkeit fehlten Geld und Personal, zugleich kam die EU-Bürokratie – und das Internet. Digitalisierung versprach Effizienz und wurde flächendeckend umgesetzt. 1992, als in Estland noch getrommelt wurde, führte Deutschland das D-Netz mit dem seinerzeit weltbesten 2G-Netz ein. Seither hat noch jeder Wirtschaftsminister eine Digitalstrategie verkündet, mit dem Resultat, dass Deutschland zuverlässig zurückfiel. Schleppender Netzausbau, Eitelkeit und Kompetenzgerangel von Ministerien, Ländern und Kommunen – die Vorwürfe kann Braun mitsingen und hält sie für ebenso berechtigt wie unerklärlich. Er hat schon als junger Arzt für die digitale Patientenakte gekämpft und kennt die Hemmnisse: zu viele Bedenken, zu viele Technikmuffel, zu viele Zuständigkeiten. Deutschland beweist, wie ein System mit zunehmender Lebensdauer immer komplexer geraten kann, bis zum Steuerungsverlust. 59 Prozent aller Deutschen, Europarekord, fühlen sich digital abgehängt, ergab eine Ipsos-Studie, aber nur 16 Prozent der Schweden.

Tapfer erzählt Braun von Gesetzesvorlagen, die digital im Kabinett bearbeitet werden, während Regierung und Behörden knapp 150 Millionen Blatt Papier beschriften. Seine Loyalität verbietet es ihm, die wahren Gründe für Deutschlands Netznotstand zu nennen. Erstens fehlt Panik, die Digitalisierung zuverlässig beflügelt. Dem Land geht es schließlich auch als digitalem Entwicklungsland noch ganz gut. Zweitens mangelt es an einem gemeinsamen Ziel, auf das sich alle Akteure ehrlich verständigen. Als Anti-Aggressions-Training hat der Kanzleramtsminister das Computerspiel Plague Inc. für sich entdeckt. Der Spieler muss mit einem Virus die ganze Welt infizieren. „Für einen Mediziner hochspannend“, sagt Braun und träumt womöglich von einem Digitalvirus, das dieses Land eines Tages infiziert.

Auf der anderen Seite des Berliner Tiergartens sitzt Mart Laanemäe und amüsiert sich dezent über deutsche Langsamkeit. Es werde wohl zehn Jahre dauern, bis die Deutschen sich wieder nach vorn gearbeitet hätten, dorthin, wo sein Heimatland jetzt steht. Laanemäe ist Botschafter. Von Estland.

 

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Das Projekt wird finanziert von der Brost-Stiftung