Genervt vom dauernden Online-Sein der Familie hat unser Autor das Internet rationiert. Zu welchen Spätfolgen hat das radikale Experiment geführt?
Auch nach fast dreißig Ehejahren kann es zu herzergreifenden Szenen kommen. So wie neulich, als die Chefin ihre tränenfeuchten Augen auf mich richtete, liebevoll meine Hände ergriff und küsste, und nur stammelte: „Danke! Danke!! Danke!!!“ Endlich werde ich mal angemessen behandelt. Vor einigen Wochen noch hatte mir meine Familie das Virus an den Hals gewünscht. Denn ich hatte unser heimisches WLAN, nun, ein wenig justiert. In der C-Zeit war der Gebrauch des Internets ein wenig außer Kontrolle geraten, nein, seien wir ehrlich: komplett entgleist. Vor lauter Panik, dass die Welt untergehen würde, hatten wir alle Regeln ignoriert. Wir wollten Nachrichten, Ablenkung, Kontakt nach draußen. Wir waren 24 Stunden am Tag on.
Dann verschwand die C-Panik. Aber der zügellose WLAN-Gebrauch blieb. Das Dauernetz hatte sich in unserem Alltag festgefressen, wie der Wein im Urlaub. Erst abends zwei, drei Gläschen, dann abends ein Fläschchen, dann mittags die ersten Gläschen, und am Ende der Ferien hat man die Schlagzahl von Harald Juhnke erreicht. Das gefährlichste Wort der C-Tage lautete „ausnahmsweise“, denn für uns war es zum neuen Normal geworden. Nennt mich spießig, aber um zwei Uhr morgens falle ich auf billige Ausreden wie „ganz dringend was für die Schule“ (Sohn) oder „nur noch diese eine Mail“ (Gattin) nicht mehr rein. Wollen wir wirklich zu diesen Menschen gehören, die ihr Smartphone entweder vor dem morgendlichen Pinkeln checken oder währenddessen?
Seien wir ehrlich: Wie beim Urlaubswein hatten wir es nicht mit „ausnahmsweise“, sondern mit glasklarer Sucht zu tun. Tech-Experten aus dem Silicon Valley wie Tristan Harris, einst Ethik-Manager bei Google, oder Justin Rosenstein, der den Like-Daumen für Facebook erfand, warnen inzwischen vor den Abhängigkeiten, die ihre einstigen Arbeitgeber gezielt schaffen. Und diese digitale Sucht ist so stark, dass wir mit der schwedischen Strategie nicht weiterkamen, also dem Vertrauen auf Eigenverantwortung. Wie sollen die Kinder schaffen, was wir Erwachsenen kaum hinbekommen? Zwischenfazit: Wir wechseln die Strategie. Ab sofort wird das Netz eingeschränkt.
Seit vier Wochen üben wir uns nun in halbradikalem Entzug. Wochentags schaltet sich das Netz um 21.30 Uhr ab, am Wochenende um 0 Uhr. Es ist wie mit dem Intervallfasten: Erst eine größere Pause bringt Erfolg. Die Smartphones werden gemeinschaftlich und mit eisigem Blick an der Ladestation abgelegt. Anfangs herrschte die düstere Stimmung einer Suchtklinik. Das Kind wollte sich „zu Freunden“ verkrümeln, die Laune der Chefin trübte sich nach dem Abendbrot spürbar ein. Diese Phase kennen wir von der Rauchentwöhnung oder unseren vegetarischen Anflügen: Die ersten Tage sind die schlimmsten. Nach einer Woche aber ist der größte Schmerz verflogen. Das Leben normalisiert sich. Wir reden wieder miteinander. Wir heben den Blick von Display- auf Augenhöhe. Wir sagen kaum noch Sätze mit „gleich“ oder „ausnahmsweise“. Es fühlt sich an wie ein Abenteuer: zum einen die viele freie Zeit, die zweitens mit analoger Beschäftigung gefüllt werden will. Der Sohn hatte die Staubschicht von den Büchern geblasen; seine pandaartigen Augenringe verschwinden langsam. Die Gattin singt wieder, sogar beim Blick ins Buch. Gemeinsame Erkenntnis: Dieses Lesen ist ja doch eine tolle Kulturtechnik. Der Groll des Ichs ist verschwunden, das Wir kommt wieder zum Vorschein. Es macht halt mehr Spaß, mit alle Mann auf dem Sofa zu lümmeln und gemeinsam einen Film zu gucken als einsam auf ein Display zu starren. Auch die Schlafqualität wird besser, wenn das Hirn nicht rund um die Uhr mit Bildschirmlicht gegrillt wird. Wir treffen uns sogar in der Küche, um zu quatschen und gemeinsam zu kochen, wie früher. Mag uns das Covid-Virus noch eine Weile begleiten; das Digital-Virus haben wir schon mal im Griff.
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