Wenn ein ganzes Volk ins Homeoffice zieht, wird das Wohnzimmer zum Konferenzzentrum inklusive Yogastudio. Deutschland erlebt eine Express-Digitalisierung. Und was wird aus der geliebten Dienstreise?

 

Im Wohnzimmer scharrt es. Klingt gefährlich. Aber ich darf nicht hinein. Die Chefin hat Fortbildung in Positiver Psychologie, digital. „Zoom“, sagt sie ganz lässig in der Mittagspause, als ob sie seit Jahrzehnten an Online-Seminaren teilnähme. Dabei kennt sie die Software „Zoom“ gerade mal 48 Stunden. Ich linse auf ihren Bildschirm: 15 Fenster, für jeden Teilnehmenden eines, mittendrin die Dozentin. Dokumente können gezeigt werden, kleinere Gruppen ziehen sich in kleinere Räume zum Üben zurück. Dann wird mit Stühlen gescharrt. Während sie sich zur Nachmittagsschicht zurückzieht, gucke ich bei Twitter, ob die Welt noch steht. Selbstkritik: Ich mache das zu oft. Der Sohn kommt rein und fragt, was der Aggregatzustand „gasförmig“ auf Englisch heiße. Warum haben wir dem Kind Googlen beigebracht? Das sei verboten, sagt der Junge und verzieht sich zurück vor den Bildschirm, zu Slack.

Das Virus beschert uns bei allem Verheerenden einen Kollateralnutzen. Die Gattin hat innerhalb weniger Tage gelernt, wie Online-Seminare funktionieren. Eine sehr analoge Schule, die dem Internet bis vor kurzem sehr übelnahm, dass es nicht auf Papier erscheint, hat in Rekordzeit den Unterricht über die Projektsteuerungs-Software „Slack“ organisiert. Unsere Wohnung hat sich vom analogen Refugium zum Konferenzzentrum entwickelt, mit Yoga-Kammer, Seminarsaal, Fitness-Fläche, TV-Studio, Klassenzimmer, Podcast-Produktion und Allzweck-Büro. Nur Wohnen ist schwierig gerade.

Was ein digital träges Land in ein, zwei Jahrzehnten voller Internet-Kampagnen nicht hinbekommen hat, schafft ein winziges Virus: Deutschland modernisiert sich mit Highspeed, ungeordnet, chaotisch, überstürzt, improvisiert, aber alternativlos und unumkehrbar. Oma entdeckt Netflix, Dateien werden über WeTransfer geteilt, Menschen arbeiten gemeinsam via Google Docs, plötzlich laufen Seminare, Sitzungen, Akten elektronisch. Die vermeintlich eher trödelige Telekom hat das Netz zwar nicht bis an jede Milchkanne gespannt, aber die Leitungen halten. Danke dafür.

Selbst ich, der analoge Ötzi, kann meine digitalen Grundkenntnisse in der Krise ausspielen. Ich gestehe, ich fühlte mich bisweilen saudämlich die letzten Monate als Netzentdecker, als mir Menschen, die meine Enkel hätten sein können, sehr geduldig erklärten, wie man etwa einen Podcast aufnimmt und schneidet. Nachts träumte ich von großen Rollen Zeitungspapier, die alle elektronischen Geräte der Welt plattwalzen. Dann kam das Virus. Und ich friemele seither in meinen Schlafzimmerstudio mit der Gattin täglich einen kurzen Bericht zur Lage einer Berliner Familie in Quarantäne zusammen. Meine Frau, die Psychologin, gibt hilfreiche Ratschläge zum Umgang mit Angst und Einsamkeit. „Wir gegen Corona“, heißt das Werk, das niemals einen Preis gewinnen wird, aber unsere Tage strukturiert. Wenn alle Jobs der nächsten Monate auf einen Schlag abgesagt sind, dann freuen sich zwei Selbstständige wie wir, dass überhaupt was zu tun ist. Und am Ende werden wir digital kompetenter sein.

Was wird nun mit Deutschland geschehen, wenn Arbeitgeber feststellen, dass sich die meisten Unterredungen via Slack oder Skype oder Zoom organisieren lassen, wenn die sündteure Videotechnik, die in tausenden von Konferenztischen einst verbaut wurde, tatsächlich zum Einsatz kommt? Wird das Land von all den Alukoffermännern befreit, die von montags bis freitags mit diesem irren Lassen-Sie-mich-durch-ich-muss-zum-Meeting-Blick durch Bahnhöfe und Flughäfen rollen? Eher nicht. Denn mancher, der jahrelang erfolglos das Recht auf Homeoffice gegen IT-Abteilung, Betriebsrat, Ergonomiker und all die anderen Bedenkenträger durchzukämpfen versuchte, wünscht sich nach der ersten Woche zu Hause schleunigst zurück ins heimelige Büro oder auf eine entspannte Dienstreise.

 

Podcast „Wir gegen Corona“: https://www.morgenpost.de/podcast/wir-gegen-corona/