Schonungslose Selbstanalyse unseres twitternden Netzentdeckers: Welche Vorteile bietet das tägliche Abhängen in der digitalen Welt? Und wem?

 

 

Neulich bekam ich ein Glückwunschschreiben der Firma Twitter. Zehn Jahre sei ich nun dabei, das sei doch toll. Vielen Dank auch, aber: Ist das wirklich toll? Ich habe über 5.300 Tweets verfasst. Veranschlage ich eine Minute pro Text und neun Minuten täglichen Konsums, komme ich auf gute 600 Stunden in zehn Jahren, was zwei sehr leichte Arbeitswochen pro Jahr bedeutet oder zwei normale Arbeitsmonate über zehn Jahre. Bei einem Stundenlohn von 15 Euro habe ich insgesamt 10.000 Euro vertwittert, also einen Kleinwagen verschenkt. Und meine Inhalte habe ich obendrauf gepackt, wenn auch von wechselhafter Qualität, aber gut genug, sich drüber aufzuregen und mithin anderer Kunden Zeit zu stehlen.

Errechnen wir den Nutzen: Als Journalist ist das Gefühl relativen Informiertseins wichtig; Twitter ist meine tägliche Nachrichtenagentur. Da wären zudem die Leseempfehlungen, allerlei Wertvolles, Kluges, Witziges, das sonst an mir vorbeigegangen wäre. Ich habe zudem ein wenig Werbung für meine Bücher und Beiträge gemacht, alte Kontakte stabilisiert, neue virtuelle Bekanntschaften mit Menschen geknüpft, die ich nur aufgrund ihrer Tweets kenne, was auf Dauer mehr über einen Charakter sagt als belangloser Kollegenschnack. Preisfrage: Würde mir ein Twitter-Bekannter beim Umzug helfen? Wäre mal einen Versuch wert. Das war das Positive.

Dagegen steht die schlechte Laune, wegen der sinnlosen Streits mit Idioten, der schmerzhaften Beleidigungen und dem Grummeln, schlichtweg Zeit verdaddelt zu haben. Obendrein ist da das miese Gefühl, dass ich womöglich mehr Minuten vertwittert habe, als ich hier zugebe. Zum täglichen Stoppen bin ich zu feige.

Der Schriftsteller Henry David Thoreau zog sich vor 174 Jahren für zwei Jahre in eine Blockhütte im Wald zurück. Er wollte herausfinden, welche Bedürfnisse er wirklich hatte und wie sie effektiv zu stillen waren. Thoreaus Währung war nicht Geld, sondern Zeit, womit sein Experiment brandaktuell ist. Denn viele Arbeitnehmer wünschen sich heute eher weniger Arbeitsstunden als mehr Lohn. Das Gehetztsein ist die Volkskrankheit des digitalen Zeitalters.

Thoreau, den Zeitgenossen als einen Asketen beschrieben, der wenig Wert auf Kleidung, Luxus, feines Essen legte, hinterließ den Bestseller Walden und eine brandaktuelle ökonomische Theorie: Wieviel Zeit, so fragte er, ist nötig, um ein Bedürfnis zu stillen? Thoreaus Erkenntnis: Sechs Wochen Erwerbsarbeit im Jahr reichten für seinen, kargen, Lebensunterhalt. Die restliche Zeit streifte der Schriftsteller durch die Wälder, dachte nach, schrieb und las, vor allem Alexander von Humboldt.

Auf meine Twitterei übersetzt heißt das: Ist eine gute Stunde pro Woche optimal investiert, um an wertvolle Informationen zu gelangen und Kontakte zu pflegen? Die Methoden der Verhaltenspsychologie, um mich in der Twitter-Welt zu halten, kommen mir weniger tückisch vor als die der Instagram- oder Facebook-Dealer. Bei Facebook lassen sich Stunden vertrödeln, bei Twitter eher Viertelstunden. Kann aber auch sein, dass ich mir hier gerade in die Tasche lüge wie ein Kokain-Abhängiger, der einem Heroin-Süchtigen erklärt, was die Vorzüge seiner Droge sind. Immerhin kann ich ohne, in den Sommerferien bis zu drei, vier Wochen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es zwei Sorten des Twitter-Konsums gibt: Da ist das Nutzen-Gucken, was es Neues oder Relevantes gibt. Und da ist das Ego-Gucken, ob ein paar Likes oder Weiterleitungen bei mir eingegangen sind, was ja schmeichelt. Gilt dieses kurze Wohlgefühl als Nutzen oder als doofe Eitelkeit?

Asket Thoreau würde vermutlich zu radikaler Zeitökonomie raten: Frage nicht, was du für Twitter tun kannst, sondern was Twitter für dich tun kann. Erste Maßnahme: Die Twitter-App wird vom Smartphone gelöscht. Und plötzlich ist mehr Zeit für die Tageszeitung.