Das Internet sollte uns zuerst die Wissensgesellschaft und dann eine digitale Mitmach-Demokratie bringen. Stimmt das? Nach einem Gespräch mit Professor Gerd Gigerenzer hat Hajo da seine Zweifel.
Früher, als das Internet noch klein war, da glaubte ich, dass unsere Gesellschaft profitieren würde. Erwachsene Bürger besorgen sich allerlei Informationen und diskutieren gesittet bei Facebook, um schließlich klug über Blumenkübel in der Fußgängerzone oder sachgrundlose Befristung abzustimmen. „Wissensgesellschaft“ – ein schöner Ansatz, aber leider Quatsch. Digitale Kommunikation scheint Gräben eher zu vertiefen, Emotionen siegen über Fakten. Hat der digitale Fortschritt womöglich gar die Kraft, unser demokratisches System auszuhebeln, und zwar nicht, weil eine böse Macht unseren mühsam eingeübten Parlamentarismus unterwandert, sondern weil wir uns eines Tages womöglich freiwillig dafür entscheiden?
Mit Professor Gerd Gigerenzer, 72, wage ich ein verrücktes Experiment. Wir sitzen in einer Bibliothek, ohne Handy und WLAN und sprechen miteinander, einfach so, völlig analog. Abgefahren. Gigerenzer erzählt so gelassen vom möglichen Ende der Demokratie, als lese er ein Weihnachtsmärchen am Kamin. Der Mann ist kein Apokalyptiker, sondern Bildungsforscher, Bestseller-Autor, Freund von Bauchentscheidungen und Berater der Bundesregierung. Derzeit blickt Gigerenzer nach China, wo ein digitales Belohnungssystem getestet wird, dessen Sprengkraft kaum abzusehen ist. In Teststädten bekommen Bürger Punkte für anständiges Verhalten, das Bremsen am Zebrastreifen, artig posten statt böse pesten, und immer ein nettes Wort für die Regierenden. Ein sattes Punktekonto erleichtert das Leben, beim Ausbildungsplatz für die Kinder, bei der Wohnungssuche oder den Kreditzinsen.
Mit dem Smartphone als ständigem Kontrolleur in der Tasche wird das Leben zum Punktesammelspiel und jeder Bürger zu einem Wert auf zwei Beinen. Skepsis? Eher weniger. Der Mensch liebt Flugmeilen, Payback-Punkte und Ranglisten. Gigerenzer: „Wenn Sie wissen wollen, wie vertrauenswürdig jemand ist, den Sie gerade kennenlernen, dann ziehen Sie Ihr Handy mit der Gesichtserkennungs-Software hervor und wissen mit einem Klick Bescheid.“ Wenig Punkte, kurzes Gespräch.
Was, fragt sich der Forscher, macht die permanente Punktejagd wohl mit einer Gesellschaft? Angeblich, sagt Gigerenzer, seien chinesische Autofahrer bereits rücksichtsvoller unterwegs. Und was hat das mit Deutschland zu tun? Gigerenzer wagt ein Gedankenspiel: Führt das Punktesystem dazu, dass sich Chinesen tatsächlich vorbildlicher verhalten, dann werden andere Länder mit autokratischen Tendenzen dieses Programm ebenfalls einführen wollen. Und eines Tages, so Gigerenzer, stelle sich die Frage, „ob unsere langsame Demokratie und das relativ geringe politische Interesse an persönlicher Freiheit, das wir inzwischen haben, da noch mithält. Diese neue Gesellschaft scheint ja nicht bedrohlich zu sein wie 1984 oder Schöne neue Welt, sondern attraktiv.“ Die Menschen geben alles Private freiwillig preis. Der Traum der staatlichen Überwacher.
Aber, aber, Herr Professor, wir feiern 70 Jahre Grundgesetz und freuen uns an der liberalen Demokratie. Die werden wir doch nicht abwählen. Gigerenzer lächelt und zitiert chinesische Freunde, die angesichts von Trump und Brexit ihre Zweifel am Segen demokratischer Entscheidungen hegen. Am Ende, glaubt der Professor, gehe es um die Kernfrage allen Fortschritts: Was ist bequem, was funktioniert? Ob Wisch-Handy, Google-Suche oder One-Click-Shopping – das Einfache gewinnt. Demokratie dagegen ist kompliziert, der Kompromiss meist unbequem und der Flughafen immer noch nicht fertig. Professor Gigerenzer lädt ein zu einer kleinen Prognose: Wie würde ein Volksentscheid zur Einführung von Punktekonten in Deutschland wohl ausgehen?
In der kommenden Woche erklärt Professor Gigerenzer, was soziale Netzwerke mit uns machen. Das ganze Gespräch finden Sie hier.
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